Zehn Jahre Deutsche Guggenheim Berlin: Die Schönheit nach Marx

Zum Jubiläum zeigt die Deutsche Guggenheim Fotos von Jeff Wall. Sie zeigen die Häßlichkeit der westlichen Industriegesellschaft zwar ästhetisch, aber mit viel Empathie.

Bekannt wurde Jeff Walls für seine frühe Verwendung von Großbilddias in Leuchtkästen: Overpass (2001). Bild: deutsche guggenheim berlin

Die aktuelle Ausstellung der Deutschen Guggenheim "Jeff Wall: Belichtung" zeigt gerade einmal neun Großformate des kanadischen Künstlers. Mehr kann der Ausstellungsraum nicht fassen. Dennoch bietet die Auswahl von drei farbigen Leuchtkastendias und sechs Schwarzweißabzügen, darunter vier neue Arbeiten, einen luziden Einblick in sein Werk. Einmal mehr bewahrheitet sich in dem Bankhaus Unter den Linden also der Grundsatz der Moderne des 20. Jahrhunderts: Less is more.

Mit der Jeff-Wall-Ausstellung feiert der Raum für zeitgenössische Kunst sein zehnjähriges Bestehen. Bei seiner Gründung 1997 stellte er ein für Deutschland neues Modell der Zusammenarbeit zwischen Museum und Bank dar. Im konkreten Fall zwischen dem Solomon R. Guggenheim Museum, New York, und der Deutschen Bank, die in ihrer Berliner Repräsentanz ihre Rolle als Kunstsponsor über das eigene Haus hinaus ausdehnen wollte.

Seitdem hat das Joint Venture in Sachen Kunst tatsächlich viel geleistet. Für die Stadt, in die interessante Positionen des internationalen Kunstgeschehens geholt wurden, wie für die präsentierten Künstler selbst. Für Neo Rauch etwa bedeutete die erste Museumsausstellung 2001 in den Räumen der Guggenheim die entscheidende Zündstufe, die seine Karriere rasant in internationale Bahnen lenkte. Der heutige Malerstar aus Leipzig war damals vielleicht schon etwas bekannter als jetzt die junge amerikanische Künstlerin Phoebe Washburn, die kürzlich mit ihrer Kunstfabrik, in der sie in der Guggenheim das Gras wachsen ließ, für Aufsehen sorgte. Dennoch, die große Museumsschau auf 2.000 Quadratmetern hätte Rauch mit seinem Werk nicht bedienen können, obwohl es schon in sich konsistent genug entwickelt war, um als neue, originelle Auseinandersetzung mit der Malerei wahrgenommen zu werden, die die weitere Beobachtung lohnt.

Selbstverständlich erleichtern die verfügbaren 350 Quadratmeter den Kuratoren die Entscheidung, auf junge Künstler und Künstlerinnen zu setzen; auf eine zeitgenössische Kunst, die ihren Platz im Museum noch nicht behaupten kann, deren Einfluss aber den Rahmen des Kunstmarktes schon sprengt. Gleichzeitig sind Ausstellungen mit renommierten Künstlern deswegen nicht weniger attraktiv. Der schmale, langgestreckte Kubus, dessen prachtvolle Höhe ihm den Flair eines Museumsflügels gibt, zwingt zur Konzentration. Er ermutigt die große Setzung, wie sie etwa der Pop-Art-Klassiker James Rosenquist 1998 mit seinem Düsenjet wagte, den er in einem gigantischen Strudel aus Farbe und Licht in den Raum bersten ließ. Dabei erwies sich die Dependance in Berlin vor allem für die New Yorker Solomon R. Guggenheim Foundation, deren Konzept der Museumsvermarktung im Franchisesystem nur selten positive Schlagzeilen machte, als eine ihrer wertvollsten, weil solidesten Gründungen.

Zum zehnjährigen Jubiläum unterstreicht man jetzt also noch einmal das Anliegen, Bildungs- und Verständigungsforum zur Gegenwartskunst zu sein. Daher lädt die Deutsche Guggenheim die Schüler und Schülerinnen der siebten bis zehnten Klasse aller Berliner Schulen ein, bei einem Schreibwettbewerb mitzumachen, der eine Brücke zwischen Bildender Kunst und Literatur schlagen will. Sie sollen sich von den Fotografien Jeff Walls zu einer Kurzgeschichte anregen lassen. Eine durchaus plausible Idee, denn die sorgfältig, bis in Detail hinein durchinszenierten Fotogemälde des Künstlers verführen unbedingt dazu, nach der Geschichte zu suchen, die ihnen womöglich zugrunde liegt.

Ohne diese Geschichte im Bild wirklich rekonstruieren zu können, ist immer deutlich, dass sie vom Alltag und den Arbeits- und Lebensbedingungen in der westlichen Industriegesellschaft erzählt. Die gesuchte Geschichte spielt, darüber lässt Jeff Wall keine Zweifel, "in einer hässlichen Welt". Umso mehr verdient sie, auch darüber lässt er den Betrachter nicht im Ungewissen, ein "schönes Bild"; etwa die düstere Studie eines leergeräumten Kühlraums, dessen Decke eine Eiskruste überzieht (Cold Storage, Vancouver, 2007), oder das zweieinhalb mal vier Meter messende Schwarzweißtableau der Männer am Straßenrand, die darauf warten, dass einer der Vorbeifahrenden ihnen Arbeit gibt (Men Waiting, 2006). Erst das einzigartig triste Bild, auf dem man eine Frau nach einem langen Arbeitstag in ihre heruntergekommene Reihenhaussiedlung zurückkehren sieht (Tenants, 2007), verleitet den Betrachter dazu, es genau zu studieren. Verleitet ihn dazu, sich in die Situation hineinzubegeben, in der man tagtäglich seine Arbeitskraft aufs Neue verkauft oder seine Gesundheit in einem der keineswegs überflüssig gewordenen Knochenjobs ruiniert.

Jeff Wall hat seinen Marx gelesen. Er weiß, dass seine Bilder und die Bewunderung, die sie in den Museen und Ausstellungsräumen weltweit erfahren, die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard derjenigen nicht verändern, denen sie lakonisch und unsentimental ein Denkmal setzen. In den wohlerwogenen Kompositionen einer Konzeptfotografie, die an der Schnittstelle zwischen Malerei, Film und Fotografie siedelt, kommt seine Empathie mit den Menschen, die er als Motiv entdeckt, durchaus zum Ausdruck; die Wut, der Schmerz, aber auch die Bewunderung, die er dabei empfindet und in eine formal anspruchsvolle Bildsprache überführt. Es ist ja nicht falsch, dass es nicht die Kunst ist, sondern dass es die Arbeitsgerichte sind, die Gewerkschaften und die Parteien, die bessere Lebensbedingungen durchsetzen. Ebenso wenig falsch ist es aber, wenn die Kunst mit ihren ästhetischen statt agitatorischen Mitteln diesem Anliegen Aufmerksamkeit und Zustimmung verschafft.

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