jazzkolumne
: Der Fortschritt schöpft aus dem Vollen

Enrico Rava ist einer der großen Jazztrompeter. Musiker sollen sich auf das Schöne, nicht das Neue konzentrieren, sagt der Avantgardist

Man kann sich den Trompeter Don Cherry als freien Menschen vorstellen. Sein Denken, seine Gefühle ließen es für ihn selbst nicht zu, sich in einer Schachtel eingesperrt zu sehen. Ob da nun Free Jazz oder Ethno Music draufstand, Cherry konnte es nicht ertragen. Cherry war so neugierig, dass er sich schon fast selbst geschadet hat, berichtet Enrico Rava. Für ihn war der 1995 verstorbene Cherry der größte Trompeter neben Miles Davis, ihm gehörte die Zukunft. Von Cherry habe er alles Wichtige gelernt, sagt Rava, und für seine Anfang dieses Jahres erschienene Quintett-CD „The Words And The Days“ (ECM) nahm er auch die wunderschöne Cherry-Komposition „Art Deco“ auf. Der 1939 in Triest geborene Rava gilt heute als einer der letzten großen Trompeter des Jazz, seine aktuellen Live-Konzerte stellen noch seine jüngsten CDs weit in den Schatten.

Anfang der Sechziger wurde er mit dem Saxofonisten Gato Barbieri weltweit bekannt, gut vier Jahrzehnte später absolvierten die beiden eine komplett ausverkaufte Reunion-Tour durch italienische Konzertsäle. Nach einer abenteuerlichen Südamerika-Exkursion mit dem Sopransaxofonisten Steve Lacy zog Rava Ende der Sechziger für acht Jahre nach New York, wo er im Umfeld von Bill Dixon, Roswell Rudd und Carla Bley spielte. Zu den Highlights jener Zeit gehört die von Rava und Lacy aufgenommene Platte „The Forest and the Zoo“ (ESP).

Die Avantgarde-Schule entpuppte sich als ein ständiger Kampf ums Überleben, die Musik war zwar eng mit der sozialen Bewegung jener Tage verknüpft, doch zahlen wollte keiner dafür. Das Missverständnis, dass Free Music umsonst zu haben sei, hält sich ja in den USA bis heute. Doch während die New Yorker Avantgarde in den frühen Siebzigerjahren weiterhin um Auftrittsmöglichkeiten kämpfte, lernte Rava auf den kommunistischen Kulturfestivals der L’Unita in Rom eine gänzlich andere Umarmung des Jazz kennen. Vor fünf Jahren erhielt Rava als erster italienischer Musiker den mittlerweile renommierten dänischen Jazzpar-Preis und wurde in die Akademie der Schönen Künste Italiens berufen.

Beim Gespräch anlässlich eines Duokonzertes mit dem Pianisten Stefano Bollani in Berlin äußert sich Rava skeptisch über Kategorisierungen jeder Art. Besonders, wenn man ihn zum Jazz der Sechzigerjahre fragt: Man könne nicht etwas Neues versuchen. Sich so etwas vorzunehmen, bezeichnet Rava als fatalen Irrglauben. Das Experiment sei eine Sache der Wissenschaft, nicht der musikalischen Praxis. Es gehe um die Schönheit des Klangs. Er spreche auch kaum über Musik, wenn er mit jüngeren Musikern zusammen ist, berichtet Rava. Mit dem 1972 geborenen Stefano Bollani würde er über Essen und teure Stoffe reden, manchmal auch über etwas, das sie zusammen gehört haben und das ihnen gefallen hat. Doch ob man zusammen spielen könne, sei kein Ergebnis des Gesprächs. Die Haltung zähle und dass man die gleichen Vibes spürt: Das Wichtigste für einen Jazzmusiker und -komponisten sei es, die richtigen Mitspieler auszuwählen. Ist einem das gelungen, habe man alles gewonnen, sagt Rava.

Genau das habe auch er von seinem Mentor Rava gelernt, erzählt Bollani. Gute Musiker wüssten intuitiv, was zu tun ist. Wenn Rava eine neue Komposition mitbringe, gebe er keine Anweisungen. Man müsse selbst entscheiden, was gut klingt, wie man der kompositorischen Idee Farbe und Relevanz geben kann. Und ein wirklicher Improvisator solle sogar offen dafür sein, ein schreckliches Konzert zu geben, ergänzt Bollani. Man dürfe keine Angst bekommen, wenn etwas mal nicht gelingt. Morgen kommt ein neuer Tag, neues Glück, das beste Konzert deines Lebens womöglich – das sei die Philosophie des Jazz.

Neben Ornette Coleman bezeichnet Rava Cecil Taylor als wichtigsten Musiker der Sechziger. Mit ihm hat er damals viel zusammen gespielt, und rückblickend fällt ihm auf, dass Taylor nie ein Wort über die Musik verloren habe, die sie während jener gemeinsamen Wochen gespielt haben. Er habe Platten von Aretha Franklin und Stevie Wonder aufgelegt, über Essen und Schuhe geredet oder sei zum Tanzen in die Disko gegangen. Die Avantgardisten hätten immer aus dem Vollen geschöpft, resümiert Rava, sie hätten sich nicht in ein Zimmer eingeschlossen und gegrübelt, welche Musik sie am Abend spielen sollen.

Am 15. Dezember wird der 34-jährige Bollani in Wien als bester europäischer Jazzmusiker ausgezeichnet, doch wie Rava hält er auch nicht viel von solchen Zuschreibungen. Es falle ihm schon schwer genug, das Italienische in seiner Musik zu beschreiben. Ob er nun an seine aktuelle Duo-CD mit Rava, „The Third Man“ (ECM), an Paolo Fresus „Stanley Music“ (Blue Note), an Antonello Salis, Gianluigi Trovesi oder Stefano Di Battistas „Trouble Shootin‘“ (Blue Note) denke, eine italienische Schule hört Bollani da nicht. Man sei ganz unterschiedlich zum Jazz gekommen, einige autodidaktisch, einige aus der Folklore, andere wie er waren die guten Schüler, die eine klassische Ausbildung erhielten. Doch was sie eine, sei die Liebe zur Melodie, glaubt Bollani. Die gäbe es wohl auch bei den afroamerikanischen Musikern, wendet Rava ein, doch die Italiener seien vielleicht noch einen Tick gelassener. Selbst bei einem Bebop-Spieler wie Di Battista höre man noch die melodischen Linien, sagt Rava, man sei zum Glück nicht so abstrakt wie die cartesianischen Franzosen. Man handele instinktiver, trinke mehr und der italienische Wein sei auch viel besser.

CHRISTIAN BROECKING