Erst reden, dann feiern

Vor der Verleihung des 20. Europäischen Filmpreises in Berlin stand die Debatte zum Thema Migration und Kino

Postmigrantisches Kino, Kino der dritten Generation, „cinéma beure“, Métissage: Es gibt viele Ausdrücke für den Umstand, dass das gegenwärtige Kino in Europa (und auch anderswo) seine besten Filme oftmals in Geschichten von Menschen findet, die in ihrer eigenen Heimat fremd sind; die gewissermaßen in Distanz zu jedem Ort stehen und sich auf der Flucht befinden, selbst wenn diese Flucht auf der Stelle stattfinden sollte. Und während dieses Kino die inneren Grenzen einer Gesellschaft sichtbar macht, ebnet es auch eine andere Unterscheidung ein: Die Leute vor und hinter der Kamera spielen nicht, sie nehmen keine Rollen an, sondern haben das, wovon erzählt wird, selbst erlebt.

“Métissage ist der einzige Weg, auf dem das Kino überleben kann.“ Dieses Statement stand am Beginn der halbtägigen Konferenz „Europe on the Move – Migration in Movies“, die die Europäische Filmakademie (EFA) am Samstag im Berliner Filmkunsthaus Babylon ausrichtete, bevor am Abend in der Arena Treptow der 20. Europäische Filmpreis verliehen wurde, getreu dem Motto: erst reden, dann feiern. Nun kann man das Eingangsstatement auf mindestens zwei Weisen verstehen. Nämlich einerseits als Aufforderung, auf ein anderes (offeneres, neugierigeres, menschlicheres) Kino zu vertrauen, und andererseits als schlichte Beschreibung einer Tatsache. Denn nicht nur ist Migration schon länger europäische Wirklichkeit, als die meisten wahrhaben wollen; auch lassen sich immer mehr Filmprojekte überhaupt nur als internationale Koproduktionen verwirklichen. Grenzen zu überschreiten war für Kunst immer schon Privileg und Notwendigkeit zugleich.

Wozu aber muss Kunst in einer ohnehin globalisierten Welt noch Brücken zwischen den Kulturen schlagen? Der israelische Filmemacher Amos Gitai meinte dazu: „Es gibt keine glücklichen Stämme mehr. Jeder ist mit jedem anderen verbunden. Das ist die Wirklichkeit, mit der wir Filmemacher arbeiten müssen.“ Worauf der niederländische Publizist und Kritiker des Multikulturalismus Paul Scheffer, von einem anderen Panel aus, entgegnete: Es gebe allerdings jede Menge unglücklicher Stämme da draußen, die wütend und aufgebracht und bereit seien, uns zu schaden. Vielleicht wäre dann Aufgabe der Kunst, um im Bild zu bleiben, dazu beizutragen, dass auf den Brücken kein Wegzoll erhoben wird, dass sie in beide Richtungen geöffnet bleiben und dass sie Orte der Begegnung, nicht des Missverstehens sind.

Den Fokus auf Berlin und die Situation der türkischstämmigen Migranten richtete das zweite Panel. Darin berichtete der Rektor der Rütli-Schule von den Bemühungen, für die berühmte wie berüchtigte Lehranstalt ein neues Image zu finden. Mit T-Shirts der Marke Rütli-Wear soll die Schule jetzt zum Label gemacht werden: eine Art Branding der Gebrandmarkten. Dass Herkunft kein Grund für mangelndes Selbstbewusstsein sein muss, bewies der Schauspieler Oktay Özdemir („Knallhart“). Frage des Moderators: „Wie fühlt sich das an, im Kino immer den Bösewicht zu spielen und im echten Leben ein Star zu sein und nicht mehr nichts?“ Özdemir: „Ich war schon immer etwas anders.“ Tatsächlich war der Neuköllner schon als Kind Mitglied einer Zirkustruppe und stand auf Theaterbühnen.

Deutlichen Schwung gewann die Tagung im dritten Panel, in dem Daniel Cohn-Bendit, die Comicautorin und Regisseurin Marjane Satrapi („Persepolis“) und der Filmemacher Danis Tanovic („No Man’s Land“) die Frage diskutierten, welche kulturellen Impulse von Migration ausgehen. Für Tanovic bedeutet Migration, sowohl das Fremde als auch das Eigene mit neuen Augen wahrzunehmen. Bei allen offensichtlichen Härten, die Migration mit sich bringt, wollte Cohn-Bendit deren Vorteile nicht unerwähnt lassen: Transnational zu sein heißt, niemandem loyal sein zu müssen. In der Distanz von jeglicher Heimat stecke ein Moment der Befreiung, der zumindest für künstlerische Produktion unerlässlich und wertvoll sei. Diesem Plädoyer für Distanzierung pflichtete Satrapi mit der Bemerkung bei, zwischen mehreren Stühlen zu sitzen sei immer noch bequemer, als auf einem festgebunden zu sein.

Auf der Gala-Veranstaltung am Abend pochte einer auf sein Recht auf Nichtmigration: Jean-Luc Godard, von der EFA für sein Lebenswerk geehrt, hatte bereits im Vorfeld sein Kommen abgesagt. „Ich sage Dankeschön, zugleich aber auch Nein danke“, ließ er die Organisatoren via Arte-Interview wissen.

Zum glücklichen Gewinner des Abends wurde Cristian Mungiu, der für „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ den Preis für den besten Film und die beste Regie entgegennehmen konnte. Und weil Jubiläum war, gingen auch die anwesenden Gründungsmitglieder der EFA nicht leer aus: Sie bekamen zehn Kiesel überreicht, aufgelesen am Strand von Farö von Ingmar Bergman, wenige Monate vor dessen Tod. Kino kann vielleicht keine Berge, aber zumindest Steine in Bewegung setzen. DIETMAR KAMMERER