ACHSE DER ÜBERGANGENEN PLATTEN – T. RAPP
Wir sind überwältigt

Es gibt Platten, die wachsen. Nicht nur jedes Mal, das man sie hört. Auch mit jeder Single, die ausgekoppelt wird. Zunächst hat man sie womöglich gar nicht bemerkt, doch dann legen sie Schicht auf Schicht an Bedeutung zu. „Overpowered“, das zweite Soloalbum von Róisín Murphy, ist so eine Platte.

Róisín Murphy war schon als Sängerin von Moloko die Art von Star, den Lifestylemagazinmacher gerne in die Experimentalklamotten von Jungdesignern stecken. Zum einen, weil sie auch dann noch super aussieht. Zum anderen, weil sie so etwas mit sich machen ließ. Für „Overpowered“ hat sie aus dieser Persönlichkeit ein Starmodell gebastelt, eine Figur, die – wie in den Videos und auf den verschiedenen Covern sichtbar – Glamour und Alltag aufeinanderprallen lässt. Am schönsten auf der Hülle der Single „Let Me Know“, wo sie in einem untragbaren schwarzen Plastikkleid in einem Park steht und zwei Kinder in Kinderritterrüstungen sie anschauen. Jedem seine Verkleidung.

Aber diese brillante Oberfläche ist nur die eine Hälfte. Die Musik ist die andere. „Overpowered“ ist das grandiose Discopopalbum, das Kylie Minogue nicht gelungen ist, tief den Discoästhetiken der vergangenen dreißig Jahre verpflichtet – Frühachtziger-Boogie trifft Daft Punk. Fast jedes Stück würde eine großartige Single abgeben. Eingespielt mit dem sicheren Gefühl für den physischen Schub, den etwa eine bestimmte 86er-Electro-Bassline auch heute noch entwickeln kann, aber ohne die Nostalgie, die damit oft einhergeht.

Diese Disco ist ein Ort, wo Traum und Alltag sich nicht ausschließen, sondern immer gleichzeitig da sind. Wo Geschmackssicherheit und das dringende Bedürfnis, sich daneben zu benehmen, zwei Seiten der gleichen Maxisingle sind.

Róisín Murphy: „Overpowered“ (EMI)

Das war’s dann mit Grime

Unerklärliches England und ungerechte Welt: Lange ist es nicht her, drei bis vier Jahre ungefähr, da gab es im Popdiskurs nichts, was höher gehandelt wurde als Grime. Endlich hat England seine Version von Hiphop entwickelt, ging die Erzählung. Grime, das war: Piratensender plus rappende Unterschichtsjungs plus Bass plus UK-Breakbeat. Kurz alles, was in den letzten zwanzig Jahren toll war an London, ergab zusammen etwas, was noch toller war.

Heute will niemand mehr etwas von Grime wissen. Was auch damit zusammenhängt, dass es den Grime-Künstlern nie gelang, mehr zu sein als die great British hope. Die ganze schöne Energie dieser Szene verpuffte in der Anstrengung, die es bedeutete, der Welt einzureden, bald, ganz bald werde man groß und berühmt. Daraus wurde aber nichts. Und ewig will sich niemand vom Zustand kurz vorm Berühmtsein vorrappen lassen.

Mit Dizzee Rascals „Maths and English“ und Wileys „Playtime Is Over“ brachten die beiden Zentralfiguren des Grime dieses Jahr Alben heraus, die das Genre verabschieden. Ersterer, indem er es dem amerikanischen Hiphop anverwandelte. Letzterer, indem er alles ließ wie gehabt – Playstation-Sounds, schwere synkopierte Beats, Hochgeschwindigkeitsgequatsche – und ankündigte, sich aus der Musik zurückziehen zu wollen.

Was nun? Dubstep ist die Musik der Stunde. Grime-Instrumentals mit noch mehr Bass und mehr Platz zwischen den einzelnen Sounds, wenn man so will. Realistischerweise wird es Dubstep wohl ähnlich ergehen wie Grime. Der nächste heiße Scheiß ist schon da: Bassline-House wird es 2008 wohl werden. Womit nichts über die Musik gesagt wäre. Aber niemand versteht die Schönheit der Popschnelllebigkeit besser als die Briten.

Wiley: „Playtime Is Over“ (Fat Cat)