Handbuch über den Literaturskandal: Strukturwandel des Skandals

Das Literarische reicht nicht mehr, um die Konsensgesellschaft aus der Reserve zu locken. NS-Verstrickungen oder Pornoverdacht machen erst den Skandal.

Brach eine literarische Fehde vom Zaun : Heinrich Heine. Bild: dpa

"Gestern Morgen habe ich den Grafen Platen ausgepeitscht", schreibt Heinrich Heine im November 1829 an seinen Schriftstellerkollegen Karl Lebrecht Immermann. Einen Monat später, offenbar immer noch stolz auf seine polemische Invektive, die noch im selben Jahr in den "Reisebildern 3. Theil" erscheint, rechtfertigt Heine noch einmal sein Vorgehen: "Es galt kein scherzendes Tournier, sondern Vernichtungskrieg." Das stimmt insofern, als hier ein Kampf um die führende Position auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt ausgefochten wurde, also nichts Geringeres als die Nachfolge Goethes auf dem Spiel stand; da werden keine Gefangenen gemacht. August von Platen, der diese Position für sich beanspruchte, hatte schon ziemlich vorgelegt und im Lustspiel "Romantischer Ödipus" Heine mit antijüdischen Klischees zu denunzieren versucht. Heine passte sich dem Niveau seines Kontrahenten sogleich an und mokierte sich über das "Weib, das sich an Weibischem ergötzt", bringt also Platens Homosexualität ins Spiel. Beide haben sich damit keinen Gefallen getan, die literarische Öffentlichkeit war einhellig empört, obwohl sie sich genauso gut hätte dankbar verneigen können, dass sie diese furiose Fehde warm durch den Winter gebracht hatte.

Literaturskandale machen eben nicht nur Spaß, weil sie dem offensichtlich anthropologischen, wenn auch individuell unterschiedlich ausgeprägten Klatschbedürfnis Nahrung geben, sie haben auch einen Sinn. Indem sich eine Gesellschaft gemeinsam über etwas entrüstet, vergewissert sie sich noch einmal der Gültigkeit ihres Normenkatalogs. Insofern hat der Skandal eine nicht zu unterschätzende integrative Funktion, sie bestätigt und erneuert den Konsens. Da spricht es durchaus für das frühe 19. Jahrhundert, dass man mit Juden- und Schwulenwitzen zumindest im bürgerlichen Öffentlichkeitsraum noch nicht so einfach punkten konnte. Diese degoutante Diskursvermischung sicherte der Heine-Platen-Affäre dann aber ihre anhaltende Beliebtheit. Wann immer in den folgenden Jahrzehnten über die "Schwierigkeiten" der Gesellschaft mit Homosexuellen und Juden, ihren "Außenseitern" (Hans Mayer), diskutiert wurde, nahm man Bezug auf diese Schmierenkomödie.

Ein Skandal verweist also, und das ist ein weiterer, sozusagen heuristischer Vorzug, auf ein gesellschaftliches Problem, nämlich auf eine Abweichung von der sanktionierten Norm - wie man in einem gerade erschienenen, sehr materialreichen und instruktiven Handbuch mit dem Titel "Literatur als Skandal" nachlesen kann. Gerade unter den polemischen Bedingungen des Streits, mit seinen Vereinfachungen und Vergröberungen, zeigen sich deutlich die konkurrierenden Positionen. Der Verlauf des Skandals entscheidet schließlich darüber, ob der kollektive Wertekanon behauptet werden kann oder ob er einmal mehr modifiziert werden muss. Wenn Schiller 1789 die Gedichte seines Freundes und Sturm-und-Drang-Kombattanten Gottfried August Bürger mit Aplomb verreißt, weil es ihnen an "Idealisierungskunst" ermangele, markiert das seinen individuellen und zugleich auch einen kollektiven poetologischen Häutungsprozess. Schiller skizziert hier ex negativo bereits das nachfolgende Epochenprogramm der Klassik: Idealisierung gehörte von da an halt dazu. Und wenn Peter Handke 1966 auf der Princeton-Tagung der Gruppe 47 den etablierten Autoren "Beschreibungsimpotenz" vorwirft, dann offenbart sich hier gewissermaßen en détail ein weiterer Paradigmenwechsel, nämlich die endgültige Verabschiedung des naiven Stunde-null-Realismus als beherrschende Doktrin der Nachkriegsliteratur zugunsten einer avancierteren, formbewussten und mit Form experimentierenden Literatur.

Volker Ladenthin hat in seinem schönen Aufsatz "Literatur als Skandal", der dem voluminösen und für eine akademische Publikation durchaus lesbaren Tagungsband von Stefan Neuhaus und Johann Holzner den Titel gibt, erläutert, warum sich die Geschichte der modernen Literatur als eine einzige große Skandalgeschichte schreiben lässt. In der antiken Tradition, die in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichte, lieferte eine normative Regelpoetik die Parameter für das Gelingen des Kunstwerks; ein Skandal wurde also allenfalls aus Unvermögen oder Unbotmäßigkeit ausgelöst, wenn der Künstler den Regeln nicht entsprechen konnte oder - noch schlimmer - wollte. Dagegen lässt sich mit der Entwicklung des modernen selbstbewussten Individuums und der damit einhergehenden Autonomieästhetik der gegenteilige Fall beobachten.

In dem Moment, in dem der Künstler keine allgemein verbindlichen Regeln mehr anerkennt, sondern seine moderne Hybris ihm vielmehr eingibt, dass er selbst sich die Regeln zu machen habe, die zum Gelingen des Kunstwerks führen, öffnet er den ästhetischen Diskurs ins Unendliche. Erst der immer wieder vollzogene Regelverstoß, die stete Abweichung von der Konvention verbürgt die Originalität des Werks. Will der Künstler als Künstler ernst genommen und nicht mit dem Generalverdikt der Epigonalität belegt werden, kann er gar nicht anders, als immer wieder einen ästhetischen Skandal heraufzubeschwören. Dem modernen Kunstwerk ist der Skandal somit eingeschrieben. Aber in der Postmoderne, mit dem "Ende der Avantgarden", ist mit ästhetischen Positionen allein nun mal kein Skandal mehr zu machen.

Das zeigen die großen Literaturskandale der vergangenen beiden Jahrzehnte. Lässt man sie Revue passieren, zeigt sich, dass es nur noch am Rande um ästhetische Fragen geht. Bei den Debatten um Botho Strauß "Anschwellenden Bocksgesang", Christa Wolfs IM-Tätigkeit, Martin Walsers vermeintlich antisemitische Paulskirchenrede, seinen genauso verdächtigten Roman "Tod eines Kritikers", Grass Wenderoman "Ein weites Feld" und erst jüngst seine SS-Mitgliedschaft, Peter Handkes Serbienapologien oder Maxim Billers Schlüssellochprosa "Esra" stehen nicht mal immer genuin literarische Texte im Mittelpunkt der Kontroverse.

Alle diese Fälle kann man in dem Band komfortabel betrachten. In ihnen wird in erster Linie die moralische Integrität und der politische, ideologische Standpunkt des Autors verhandelt - oder im Falle Billers auch noch das Recht auf Kunstfreiheit. Literatur allein reicht nicht mehr, um die Konsensgesellschaft aus der Reserve zu locken. Nicht mal der Pornografieverdacht genügt mittlerweile, es muss mindestens noch ein anderer neuralgischer Topos hinzukommen: etwa Pädophilie wie in Urs Allemanns Prosatext "Babyficker", der 1991 beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen für Verständnislosigkeit und Verstimmung sorgte; Sextourismus wie in Michel Houllebecqs Roman "Plattform"; Gewalt - und dann auch noch exzessiv ausgeführt von Frauen - wie in Virginie Despentes "Fick mich"; die suggerierte Identität von Roman-Ich und Autor wie in Catherine Milets "Das sexuelle Leben der Catherine M." beziehungsweise die Wiedererkennbarkeit des Romanpersonals wie in Billers "Esra", Michael Lentz "Liebeserklärung" und Alban Nikolai Herbsts "Meere".

Herbsts Roman spielt, wiewohl eher unverfänglich, noch mit einem weiteren Reizparadigma, das unfehlbar einen Beißreflex auslöst: der NS-Zeit. Noch entschiedener versucht Thor Kunkel mit seinem trashigen Naziporno "Endstufe" an diesem Skandalpotenzial zu rühren. Sein Buch hat aber vermutlich nur deshalb für so viel Wind und bigotten Zorn im Feuilleton gesorgt, weil man es zunächst gar nicht lesen konnte. Rowohlt-Verleger Alexander Fest hatte sich nämlich wegen des vermeintlich misogynen und nazistischen Subtextes geweigert, den Roman zu drucken. Als er dann Monate später bei Eichborn erschien, wurde er zwar kontrovers besprochen, oft verrissen, gelegentlich auch gelobt, von einem Skandal mochte jedenfalls keiner mehr sprechen.

Dem ehemalige Verleger Rainer Moritz ist dieser Fall in dem Band Beleg dafür, dass Skandale heute eher zufällig entstehen - er amüsiert sich über die Vorstellung, in deutschen Verlagen säßen "Marketinghaie, die mit blutunterlaufenen Augen Skandalbücher aus der Taufe heben und gezielt lancieren". Nicht immer sind es die Verlage, aber eine inszenatorische Absicht scheint mir bei den meisten Skandalen unübersehbar. Wenn zum Beispiel FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ein Zeitungsinternum, die Absage eines Manuskriptangebots, in einem offenen Brief publik macht und ein Buch, das noch gar keiner kennt, eben Martin Walsers "Tod eines Kritikers", mit schweren, letztlich ehrabschneidenden Vorwürfen belegt, dann verletzt er die publizistischen Spielregeln mit doch wohl ziemlich eindeutigen Hintergedanken. Der Anstoß zur Aufregung war so offensichtlich kalkuliert, dass es ein bisschen traurig stimmt, wie das deutsche Feuilleton in weiten Teilen damals Pawlow bestätigte.

Aber nicht immer steigt die Öffentlichkeit so willfährig auf das Spiel ein. Sie scheint angesichts der Inflation von Literaturskandalen in den vergangenen Jahren wählerischer geworden zu sein. Wenn man nicht mit der ganz langen Zaunlatte um sich schlägt, ist es offenbar schwer vorauszuberechnen, was diesen Automatismus der Eskalation in Gang setzt. Vor allen Dingen ist aber der Ausgang des Spiels offen. Nicht immer zahlt sich der hohe Einsatz für die Betroffenen aus - ökonomisch nicht, und oftmals nicht einmal symbolisch. Das mussten schon Heine und Platen feststellen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.