Neuer Poptheorie-Sammelband: Der heißeste Scheiß

Was passiert, wenn man Systemtheorie und Pop zusammendenkt? Bleibt Pop dann immer noch bloß ein Trick der Funktionssysteme, um Menschen an sich zu binden?

Pink. Pop. Bild: cover vs-verlag

Der Sammelband "Das Populäre der Gesellschaft" folgt einem lebensweltlichen Gefühl bis tief hinein in die Wissenschaft. Der Verdacht, das Gefühl: Die gesellschaftliche Bedeutung von Pop wird unterschätzt. Pop ist so wichtig, wie er sich anfühlt, und die großartigsten unter den populären Erzeugnissen der Kulturindustrie, jene also, die mich zutiefst etwas angehen, sind mehr als (nur) Unterhaltung oder gar Zwischen- und Endprodukte kapitalistischer Verwertungsketten. Sie sind vielmehr der heißeste Scheiß. Und warum das so ist, das muss einem eine Theorie der Gegenwartsgesellschaft bitte schön erklären können.

Leider ist, wer gute Gründe sucht für dieses Gefühl, bei der Kritischen Theorie bis heute an der falschen Adresse. Was sehr schade ist, denn natürlich ist gegen Ideologiekritik in jedem Lehrplan und das Durchschauen von Verblendungszusammenhängen nichts einzuwenden. Wo aber alles Verblendungszusammenhang ist bzw. herrschaftsfreier Diskurs werden soll, bleibt für die Kollektiverfahrung wahrer Empfindung, für tanzbare Erkenntnis, für Erleuchtung durch Kitsch, für die vorübergehende Totalaffirmation des Seins in Gesellschaft, kurz: für die popkulturell induzierten Augenblicke richtigen Lebens im falschen nur wenig Platz.

Auftritt Niklas Luhmann. Luhmann? Ausgerechnet Niklas Luhmann, der Buchhalter des Weltgeists, der seine Theorie aus dem Zettelkasten schuf, mit planwirtschaftlichem Selbstauftrag: "Laufzeit: 30 Jahre, Kosten: keine". Der diesen Auftrag mit Beamtenfleiß erfüllte, 1997 pünktlich seine summa sociologica "Die Gesellschaft der Gesellschaft" veröffentlichte, bevor er dann ein Jahr später den Aktendeckel endgültig zuklappte. Und so richtig tanzbar sieht seine Theorie auf den ersten Blick auch nicht aus mit ihrem vielbändigen Funktionssystemkatalog von der Wirtschaft zur Wissenschaft zur Kunst und so weiter der Gesellschaft.

Auftritt Rainald Goetz. Für ihn, den obsessiven Luhmann-Zitierer und -Verehrer, steht die Systemtheorie im "Bann der Schönheit dessen, was ist". Und das ist, als Affirmation dessen, was toll ist, für Goetz das Pop-Gefühl schlechthin: "Es gibt keine andere vernünftige Weise, über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey super." (Beides zitiert nach Martin Jörg Schäfers Aufsatz "Luhmann als 'Pop' " im vorliegenden Band) Gut und schön, aber vernünftigerweise gehen die Autoren des Bands - traurige Gender-Bilanz: 14 Männer, keine Frau - davon aus, dass es bei Luhmann mehr als "hey super" gibt. Sie wollen schon gern wissen, wie sich mit Systemtheorie die Popularität des Populären erklären lässt.

Auftritt Urs Stäheli: Das Populäre, so seine These, ist der Trick, mit dem die ausdifferenzierten Funktionssysteme die Menschen an sich binden. Menschen, Individuen und ihr Bewusstsein, muss man dazusagen, kommen in Luhmanns Theorie nicht innerhalb, sondern nur außerhalb der Gesellschaft vor. Trotzdem geht ohne sie nichts, und weil die Gesellschaft sie braucht, müssen sie fürs streng kodierte Vor-sich-hin-Prozessieren der Systeme gewonnen werden, durch Börsenrallyes, Rechengenies, Literaturskandale, irgendwie systemisch unreine Erscheinungen also, die sich aber massenmedial gut ans größere Publikum verkaufen lassen. Das Populäre sieht dabei allerdings nicht besonders gut aus: Es macht Spaß, weil es übertreibt, verflacht, Komplexität reduziert, und im Grunde ist es von PR kaum unterscheidbar.

Rudolf Helmstetter, Jens Ruchatz, Christian Huck sehen das in ihren Beiträgen zum Geschmack, zur "Du bist Deutschland"-Kampagne und zur Mode im Roman des 18. Jahrhunderts gar nicht grundsätzlich anders. Aber sie pointieren um. Populärkultur ist wichtig, eben weil sie aus dem freudlosen weltgesellschaftlichen Immer-weiter-Kommunizieren heraus Menschen Vorschläge dazu unterbreitet, wie sie sich heutzutage noch als Individuen verstehen können. Durch die Affirmation von Idiosynkrasien, durch originelles Kopieren, durch die Begeisterung für dieses Coole und jenes Heiße.

Es gibt weitere Vorschläge, den des Mitherausgebers Carsten Zorn zum Beispiel, der das Populäre eher als Sphäre betrachtet, in der die Gesellschaft mit der Beschreibung ihrer selbst experimentiert. Und zwar so, dass potenziell jede/r mitmachen kann, indem er oder sie sich in Fernsehserien oder Popstarauftritten etc. mehr oder minder live vor Augen führen lässt, was zum Beispiel in Sachen Mode oder Gewalt oder Erfolg gerade so geht. Das so Vorgeführte lässt sich dann ablehnen, adaptieren, modifizieren und weiterdiskutieren.

Höchst lesenswert auch Rembert Hüsers böser und lustiger Text zum Versuch, die Systemtheorie selbst zu popularisieren. Als solchen versteht der Autor die in den Achtzigern von Theorie-Hansdampf Hans-Ulrich Gumbrecht veranstaltete Serie von Kolloquien in Dubrovnik. Mit dem Beispiel, das Gumbrecht als volatiler Kurator seiner eigenen Theoriewallungen gab, trug er freilich, so Hüsers Vorwurf, zum gegenwärtigen wissenschaftsbetrieblichen Theorie-Erschöpfungszustand nicht wenig bei.

Und am Ende: Auftritt Diedrich Diederichsen. Ihm als dem godfather deutscher Poptheorie geben die Herausgeber das allerletzte Wort. Er denkt nicht daran, der Systemtheorie nach dem Mund zu reden. Er besteht darauf, weiter vom "hegemonialen Block" sprechen zu dürfen, und hält die vom Pop erteilte Lizenz zur "uneingeschränkten Subjektivität" für das wie auch immer problematische Mittel der Wahl, zum Rest der Welt kritisch auf Distanz zu gehen. Ein nicht geringer Teil der in diesem Band versammelten Linksluhmannianer würde Ähnliches, wie es scheint, gern auch auf systemtheoretisch zu denken wagen. So genau weiß aber wohl keiner zu sagen, ob und, wenn ja, wie das gehen soll. Für die Leserin und den Leser ergibt das aber eine außerordentlich anregende Mischung aus Scharfsinn und leiser Ratlosigkeit.

Christian Huck, Carsten Zorn (Hrsg.): "Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur". VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 348 Seiten, 34,90 Euro

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