Fortsetzung von "Rhythm is it": Hier geht niemand verloren

"Surrogate Cities" von Heiner Goebbels ist Musik für Städter. Berlins Philharmoniker spielen, Schulklassen und Laien tanzen, unterstützt von Choreografin Mathilde Monnier.

Dirigent Simon Rattle (li.) und Heiner Goebbels bei den Proben zur Uraufführung von "Surrogate Cities" in Luzern 2003. Bild: dpa

Rudi stampft mit den Füßen. Der Mann im karierten Hemd, der die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt hat, ist der Taktgeber der Parkettfeger. Normalerweise übt dieser Berliner Seniorentanzkreis ein Standard-, Lateinamerika- und Countrydanceprogramm, heute aber versuchen sie ihre Figuren zu der Musik von Heiner Goebbels. Mit ihnen probt Mathilde Monnier, Choreografin aus Montpellier. Dreimal schaut sie sich die zu einem Block geordnete Formation von Schrittfolgen aus dem Bebop an und bittet dann: "Könnt ihr das einmal militärisch scharf, einmal lässig und dann mit etwas mehr Sex versuchen?" Die Senioren, dreißig ungefähr, geraten ins Schwitzen.

Bei der Probe vor 14 Tagen hörte man die Stimme von Jocelyn B. Smith, einer Jazzsängerin und Mezzosopranistin, noch vom Band, wie sie sich in einem sehr differenzierten und äußerst dramatischen Blues durch einen Text von Heiner Müller bewegte. Heute aber, wenn "Surrogate Cities" in der Arena im Berliner Bezirk Treptow aufgeführt wird, sind sie alle live dabei: Neben Jocelyn B. Smith der unglaubliche Stimmperformer David Moss; Sir Simon Rattle und das Orchester der Berliner Philharmoniker. Und über 120 Tänzer verschiedener Generation, gecastet in Schulen, Tanzkreisen und Kung-Fu-Gemeinden. Zusammengebracht hat sie alle das Education Programm Zukunft@BPhil der Berliner Philharmoniker, das 2002 einen durch den Film "Rhythm is it" berühmt gewordenen Start hinlegte.

Mathilde Monnier, die in Montpellier seit 1996 ein choreografisches Zentrum leitet, war in Berlin erst mit wenigen Gastspielen zu sehen. Die meisten Teilnehmer des Education-Projekts sind zwar tanzbegeistert, haben vom zeitgenössischen Tanz aber kaum einen Begriff. "Sie kommt vom Ballett, nicht wahr", sagt eine ältere Parkettfegerin, arglos über alles hinweggehend, was seit Jahrzehnten die Sphären von Klassik und Moderne trennt. Ihr Nichtwissen spielt für die Choreografin keine Rolle, denn sie hat sich ein Konzept zurechtgelegt, offen genug, um auf die Teilnehmer und ihre Fähigkeiten zugeschnitten zu werden.

"Die Teilnahme unterschiedlicher Generationen ist mir sehr wichtig", sagt Mathilde Monnier. "Denn es geht in 'Surrogate Cities' ja um das Bild einer Stadt. Da spielt gerade in Berlin das Alter eine große Rolle. Hier haben die Menschen, die über fünfzig sind, ganz andere Erfahrungen als die Jüngeren, und das wollte ich auf der Bühne haben. Einige von den Senioren kommen aus dem Osten, andere aus dem Westen; das ist immer noch offensichtlich, wenn man sie reden hört. Für die Kinder spielt das keine Rolle mehr. Sie haben eine ganz andere Vorstellung von dem, was ihnen fremd ist, als die Älteren."

Monnier geht anders vor als Royston Maldoom, der charismatische Anstifter von "Rhythm is it", der mit 250 Jugendlichen "Le Sacre du Printemps" von Strawinsky einstudierte und dabei auf die klassischen Erziehungstugenden des Balletts setzte: Disziplin, Leistung und Selbstüberwindung. Ihr Ansatz ist offener, gibt kaum einzuübende Bewegungen vor, sondern nimmt als Material gerade die Unterschiedlichkeit der Voraussetzungen an. "Das ist für mich ein Abenteuer, bei dem ich viel lerne", sagt sie, die übrigens ihr Deutsch für die Arbeit in Berlin aufgefrischt hat.

In Berlin-Neukölln probt Monnier, von drei Assistenten unterstützt, mit 9- und 10-Jährigen der 3b und 4b der Eduard-Mörike-Grundschule. Hier gab es bereits Unterricht durch einen Choreografen über das Projekt TanzZeit, in dem Künstler mit Schulen kooperieren. Weil dafür die Finanzierung aber von Schule und Eltern aufgebracht werden musste, ging das nur ein Jahr. Die guten Erfahrungen damit aber waren ein Motiv, sich für die Teilnahme an "Surrogate Cities" zu bewerben.

Was beim Probenbesuch, zwei Wochen vor der Aufführung, zuerst auffällt, ist die ungetrübte Lust der Kinder, jedem Vorschlag von Monnier und Florian Bilbao, der auch bei TanzZeit in viele Schulklassen gegangen ist, zu folgen. Die beiden diskutieren manchmal auf Französisch miteinander, wie es weitergeht; die meisten der Kinder hier kommen aus mehrsprachigen Haushalten und finden dies Gleiten zwischen zwei Sprachen nicht ungewöhnlich.

Es sieht so einfach, so naheliegend aus, wie Jungen und Mädchen in einer Szene mit Kisten voller Saft-, Milch- und Eierkartons hereinkommen und jeder für sich seine kleine Stadt aufbaut. Die Musik unterstützt sie dabei mit Dringlichkeit und Entschlossenheit, um kurz darauf, wenn jeder sein Modell betrachtet, durch deren Straßen und über ihre Plätze zu fließen. Dann nehmen Murat und Tanja und all die anderen ihre Städte ein, steigen vorsichtig wie Riesen über die Kartons oder winden sich wie eine Schlange dazwischen.

War das so einfach, wie es aussieht, frage ich die Choreografin: "Nein", sagt sie, "denn die Bewegungsimpulse gehen von unterschiedlichen Körpergliedern aus, vom Kopf, von der Hand, vom Fuß. Das mussten sie erst lernen. Außerdem ist die Musik nicht einfach, sie müssen darauf hören, um zu wissen, wann eine neue Phase beginnt. Und darauf achten, ihre Häuser nicht umzuwerfen. Sie müssen präzise sein. Aber ich wollte, dass die Kinder nicht wie 'clevere Monkeys' aussehen, wie gelehrige Nachahmer, sondern wie kluge Kinder, die genau wissen, was sie tun."

Das eben ist das Erstaunliche an ihrer Arbeit mit den Laien, dass nichts auswendig gelernt erscheint. Selbst da, wo ganz offensichtlich nachgeahmt wird. Denn mehrmals taucht in ihrer Choreografie eine Art Tanzkaraoke auf, ein Abnehmen der Bewegungen vom Bildschirm. Da ist David Moss zu sehen, der seinen Stimmvortrag mit scharfen Gesten begleitet, attackiert, ausweicht, Akzente in die Luft boxt. Und alle machen das mit, begeistert, als wären es die Posen eines Rockstars und ohne den Schatten eines Zweifels am Sinn dieses höchst artifiziellen Tuns.

"Surrogate Cities", von Heiner Goebbels 1994 geschrieben, enthält düstere Versionen von der Zukunft der Städte. Die Texte, die gesungen werden, stammen von Paul Auster (Briefe aus einer Stadt nach dem Atomkrieg), Heiner Müller (Bürgerkrieg). "Running in the streets make you look like you dont belong", heißt es in einem Text von Hugo Hamilton am Ende der Oper. Die Angst, verloren zu gehen, vor Zerstörung und Nichtzugehörigkeit ist immer wieder ihr Thema. Die Choreografie dagegen setzt nicht nur auf Bilder von Zugehörigkeit, sondern lässt sie wirklich entstehen. Und verwandelt so eine pessimistische Erzählung in eine positive Utopie.

Denn letztendlich dreht sich alles in diesem Projekt um Teilhabe: Kultur nicht als Ware zu betrachten, sie ohne Austausch zu konsumieren, sondern sich aus ihrem Inneren heraus einen fast familiären Zugang anzueignen.

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