Klavierstunden

Schwärmerisch: Nuran David Calis gilt als Spezialist für Jugend. In Hannover inszenierte er „Kabale und Liebe“

Wer zwischen so vielen Büchern haust, kann nicht übel sein, schreit das Ambiente

Durchsichtige Gaze verhängt die Bühne. Man sieht ein Paar im Schattenriss, alles ziemlich weichgezeichnet. Wenn sie dann auch noch zu Erik-Satie-Klavierklängen eine Pirouette drehen, ist man über den Anfang von „Kabale und Liebe“ erstmal ziemlich baff – über soviel zierliche Sinnlichkeit ausgerechnet von diesem Regisseur, der auch mal als Türsteher gearbeitet hat, der Videoclips drehte und mit Jugendlichen einen witzigen und klugen Abend übers Leben in Essens Problemviertel Katernberg erarbeitet hat.

Genau vor einem Jahr hat Nuran David Calis am selben Ort, auf der großen Bühne des Schauspiel Hannover, das Pubertätsnöte-Drama „Frühlings Erwachen“ frei nach Wedekind auf die Bühne gebracht. Und zwar mit Hip-hop-Battles, mit der authentischen Kraft jugendlicher Schwärmereien, die durch Unsicherheit und Angeberei immer wieder glaubhaft ins verzweifelt Aggressive umschlugen. Danach wurde Calis als ein Regisseur gefeiert, mit dem der Selbstbehauptungston der Straße ganz selbstverständlich Einzug ins Theater nimmt. Und so hätte es nicht verwundert, wenn die Klavier-und Ballettstunden-Stimmung zu Beginn von Calis’ „Kabale und Liebe“ als ironische Unterwanderung aller Erwartung gemeint gewesen wäre. Ist sie aber nicht. Das Intro ist zwar schnell wieder vorbei, entpuppt sich aber als unguter Vorbote: Der Schiller’sche Klassiker bleibt an diesem Abend ein Klassiker, der nur mühsam Anschluss findet an die heutige Zeit, aber mit der Zeit seiner Entstehung auch nicht mehr viel zu tun haben will.

Die zum Mythos gewordene feudale Standeskonvention, die zwischen Luises und Ferdinands Liebe steht, ist heute der soziale Unterschied: Sie ist die Tochter eines armen, ehrlichen Musiklehrers, er der Sohn des mächtigen, intriganten Präsidenten am fürstlichen Hofe. Aber die beiden Welten werden auf der Bühne zu schlicht gepinselt, als dass man sie wirklich ernst nehmen kann.

Den präsidialen Wohnsaal repräsentiert auf der Bühne ein langer Tisch, fürs Frühstück eingedeckt, beleuchtet von einer überdimensionierten Neonröhre, die kaltes Licht verströmt. Hart, abweisend und zynisch muss Bernd Geiling den Präsidenten geben, während Musiklehrer Miller (Moritz Dürr) arm, aber rechtschaffen sein darf. Das Wohnzimmer der Musiklehrerfamilie Miller ist karg und auch nur vorn an die Bühne gequetscht, es stapeln sich viele Bücher auf dem Fußboden. Wer hier haust, kann nicht übel sein, schreit das Ambiente.

Wie das Bühnenbild sind auch die Figuren zu offensichtlich angelegt. Picco von Groote als Luise strotzt vor allem von mädchenhafter Unmittelbarkeit, die ihre reinen und unschuldigen Gefühle bis zum Schluss verteidigt. Christoph Franken als Ferdinand gibt anfangs den romantischen Schwärmer, switcht ohne echte innere Entwicklung auf Eifersucht, und dass er am Ende das Gift in die Limonade mischt, ist dem Gang des Dramas und nicht der Notwendigkeit der Bühnenpsychologie geschuldet.

Eigentlich hatte man ja damit gerechnet, dass Calis wieder eine eigene Textbearbeitung anfertigt, dann aber soll ihn die Ehrfurcht vor Schillers Text abgehalten haben. Calis behandelt ihn mit viel Respekt, aber ohne starken Zugriff. Einiges ist gekürzt, einiges hat Calis ergänzt, aber alles bleibt nah an Schiller: „Der Himmel und Ferdinand reißen an meiner Seele“, verkündet Luise. „Was hast du, was bekümmert dich“, fragt Ferdinand. Aus echtem Fleisch und Blut ist diese Sprache nicht, aber auch ihre Fremdheit schlägt keine Funken.

Die Liebesschwüre von Wurm und von Ferdinand werden als Videosequenz auf die Bühne projiziert. Anfangs denkt man noch, es entbrennt ein Zweikampf zwischen beiden. Dann wird klar, dass Ferdinand die zentrale Figur ist: hin- und hergerissen zwischen zwei Welten. Einerseits ein Schwärmer, der Gedichte zitiert, andererseits jedoch nicht zögert, dem Vater die Waffe an den Kopf zu halten, eigentlich ein guter Ansatz. Christoph Franken steckt als Ferdinand in einem Anzug und ist damit schon optisch mehr der Welt zugeordnet, aus der er stammt. In Calis’ „Frühlings Erwachen“ war derselbe Schauspieler mit seinem Selbstbehauptungsfuror ein Kraftquell des Abends. Trotz seiner Physis wirkt er diesmal schmal und befangen. Die Gefühlsirrungen plausibel zu machen, die ihn angesichts der toten Luise fragen lassen: „Aber warum fühle ich nichts?“, das gelingt ihm nicht.

Für die einen ist in Calis’ Interpretation die Liebe über jeden Zweifel erhaben, die anderen wissen immer weniger, worum es geht. Auch wenn beides aneinander gerät, reicht das nicht an jenen von Gefühlen unterfütterten Extremismus heran, von dem „Kabale und Liebe“ erzählen könnte. Mehr als aufgepepptes Stadttheater war diesmal nicht drin. SIMONE KAEMPF