Hundert Jahre Sprachgewalt

Wie Geschichte erinnert wird: Miljenko Jergović erzählt den lebensprallen und rasanten Roman „Das Walnusshaus“

VON PATRICIA HECHT

Es ist ein ganz schön pessimistisches Statement, wenn ein Roman mit dem Tod seiner Hauptfigur beginnt. Regina Sikirić, 97 Jahre alt, rasend und wahnsinnig, stirbt in einem Krankenhaus in Dubrovnik an einer Überdosis Beruhigungsmittel. Dieses frühe Finale bestimmt die Chronologie des Romans: Konsequent rückwärts wird „Das Walnusshaus“ von Kapitel fünfzehn bis Kapitel eins, vom Tod Regina Sikirić’ 2002 bis zu ihrer Geburt 1905 erzählt. Da ist dann restlos klar, dass sich die guten Wünsche, die dem kleinen Mädchen mitgegeben wurden, in ihrem Leben nicht erfüllt haben. Um 1900 hatte man auch noch große Hoffnungen auf einen gemeinsamen südslawischen Staat auf dem Balkan gesetzt – daraus ist, wie der Roman stets miterzählt, ja auch nichts geworden.

Aber Miljenko Jergović ist ein viel zu guter Erzähler, um dieser Düsternis nichts entgegenzusetzen: Sein Roman liest sich sprachgewaltig und humorvoll. In einer rasanten Rückwärtsfahrt immer tiefer in die Vergangenheit hinein erzählt er die Familiengeschichte der Sikirić über fünf Generationen und ein Jahrhundert, streift Sitten und Gebräuche und skizziert europäische Geistes- und Kulturgeschichte. Man folgt Reginas Tochter aus der Nachkriegsgegenwart in ihre Jugend ins Sarajevo der 1960er-Jahre, in der sie sich vorm Fernseher an die Adria träumt: „Er, lange Haare, die ihm in die Augen fielen, mit Koteletten in Form von Tomahawks, halb Gastarbeiter, halb Straßenrevoluzzer, sie, mit dünn gezupften Brauen wie Mondsicheln und einer Gummikappe, die die Dauerwelle vor dem Meerwasser schützte, eine osteuropäische Schwester von Brigitte Bardot.“ Man folgt einem ihrer fünf Brüder, dem Käsehändler und liebenswürdigen Lebenskünstler Luka Sikirić, ins Mailand der 1950er-Jahre, wo er Käse zu Geld macht, indem er Anekdoten über Heerführer und Diktatoren zu seinen Käsesorten erfindet; man folgt ihrem Mann, der zur See fährt und in die bosnischen Wirren des Zweiten Weltkriegs gerät; ihrem Vater, Patenkind des Kaisers Franz Josef, und ihrem Großvater, der aus Liebe zu ihr erstochen wird, ohne dass sie je davon erfahren hätte.

Miljenko Jergović, 1966 in Sarajevo geboren, erweitert mit „Das Walnusshaus“ die thematische Bandbreite seiner Kurzgeschichten „Sarajevo Marlboro“ und des vorangegangenen Romans „Buick Rivera“, 1996 und 2006 auf Deutsch erschienen. Während es früher noch um die zwischenmenschlichen Konsequenzen der Jugoslawienkriege ging, beschreibt Jergović jetzt sein Gesamtbild südosteuropäischer Geschichte. Er verknüpft Detail für Detail aus dem Leben der Figuren und zeichnet dabei sein Bild des vergangenen Jahrhunderts auf dem Balkan und Westeuropa. Und weil Geschichte ja immer vom Ende her erzählt wird, werden bei Jergović eben auch die Leben vom Ende her erzählt. Darin liegt der Gegensatz, der die Spannung des Romans ausmacht: komische, aufregende Leben inmitten messerscharf getroffener Zeitgeschichte einerseits – und andererseits die scheinbare Sinnlosigkeit und Verlassenheit, die sich durch Wahnsinn und Tod auf ein Leben und durch Krieg und Zerstörung auf eine Region legen.

Man tappt als LeserIn dabei schnell in eine der Fallen des Romans und will kausal lesen – als ob Geschichte determiniert wäre, nur weil die Erzählbewegung zur Abwechslung gegen die Zeit läuft. Immer wieder wird vom Scheitern politischer Ideen mit Blick aufs Heute gesprochen: „Es war zu früh, um zu erkennen, dass die Sache mit dem neuen Staat nicht gut ausgehen würde.“ Aber Jergović baut viel eher auf den Zufall, privat wie historisch, der Ursache bestimmender Momente ist und Stoff für Legenden, Mythen und Geschichte liefert. Oft genug sind es auch einfach skurrile Missverständnisse: So finden sich an Luka Sikirić’ Grab „sämtliche Nutten vom Hafen“ ein, die allerdings nicht deshalb gekommen sind, weil Luka so oft ihre Dienste in Anspruch genommen hätte. Jahre vor seinem Tod hatte er bei dubiosen Geschäften viel Geld verdient und es betrunken im Hafen verschenkt – weshalb die Prostituierten „fest davon überzeugt sind, dass er ein Engel war“. Die Nachbarschaft, vom Geldsegen für die Prostituierten nichts ahnend, hält ihn für einen Schwerenöter.

Wie nebenbei entwirft der Autor so seine Vorstellung von den Mechanismen der Erinnerung, des kollektiven Gedächtnisses und der Geschichtsschreibung: „So lange konnte die Straße zurückdenken, und so war es, auch wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gab und nie gegeben hatte.“ Nur was von den Menschen wahrgenommen und nacherzählt wird, bleibt in Erinnerung. Das ändert oft nichts daran, dass sich die Figuren an traurige oder traumatische Ereignisse erinnern. Zum Glück hebt Miljenko Jergović den Wahnsinn von der inhaltlichen auch auf die erzählerische Ebene: Durch diesen komischen, mitreißenden Roman schafft er es, seinem eigenen Pessimismus glaubhaft zu trotzen und zu spotten.

Miljenko Jergović: „Das Walnusshaus“. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2008, 613 Seiten, 24,90 Euro