Ein aufwärtsstrebender Mann

Einbildungskraft und Lücken gehen gut zusammen bei Matthias Grünewald, dem das Kupferstichkabinett Berlin jetzt eine eigene Ausstellung widmet

Was denke ich, wenn ich die Figuren von Heiligen, Aposteln und Marien von Matthias Grünewald betrachte? Ich denke, dass ich Fleischesser betrachte, Menschen, die für jedes Gramm ihrer so plastisch dargestellten Körper mit ihren Händen gearbeitet haben, die nach Bauernstuben, Rauch und Mist riechen. Darüber entfaltet sich ein Aroma von heißem Bügeleisen und von gestärkter Wäsche, das von diesen in unendlich viele Falten gelegten Gewänder ausgehen muss. Wer machte die Wäsche, wer half beim Ankleiden vor 500 Jahren?

Die Einbildungskraft ist gefragt, wenn es um die Betrachtung von alter Kunst geht, wie jetzt in einer Ausstellung mit knapp dreißig Arbeiten von Matthias Grünewald, Zeichnungen zumeist und wenige Altartafeln, die das Berliner Kupferstichkabinett zeigt. Die Einbildungskraft ist gefragt nicht nur, weil man vom Leben des „Mathias Nithart oder Gothart“, genannt Grünewald, so wenig weiß, dass die Forschung seit einem Jahrhundert von einer „Sehnsucht nach Biografie“ getrieben wird und mühsam aus den wenigen gesicherten Quellen seinen Weg als gefragter Künstler (und Ingenieur der Wasserbaukunst) rekonstruiert; sondern mehr noch, weil uns als säkular aufgewachsenen Menschen die religiösen Botschaften der fast immer im Auftrag entstandenen Werke kaum noch berühren. Wohl aber ihr emotionaler Gehalt.

Die Berliner Ausstellung ist die dritte, die in kurzer Zeit über Matthias Grünewald, geboren vermutlich zwischen 1470 und 1480 in Würzburg, gestorben 1528 in Halle, gezeigt wird. Das Musée d’Unterdenlinden in Colmar, wo Grünewalds berühmteste Arbeit, der Isenheimer Altar steht, und die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe konzentrierten sich im letzten Herbst auf seine Malerei, während die Berliner Institution, die mit neunzehn Zeichnungen die Hälfte der von ihm bekannten Arbeiten auf Papier besitzt, diese Studien in den Mittelpunkt rückt. Der Wissenschaft, die mit Röntgenstrahlen unter die Oberfläche des Sichtbaren gedrungen ist, um die Stufen im Arbeitsprozess freizulegen, kommt dabei ein besonderer Stellenwert zu. Im Katalog sind zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder doppelseitig Detailvergrößerungen der Zeichnungen abgedruckt, die nicht nur grafisch äußerst reizvoll sind, sondern auch die Aufmerksamkeit für die zeichnerische Technik des Malers erhöhen.

In der Ausstellung erläutern Schaubilder, wie Grünewald mit Zeichenkohle und Fixiermitteln in verschiedenen Schichten übereinander arbeitete, um so die plastischen Effekte seiner Malerei auszuprobieren. Vergleiche erläutern, wie er in den Studien von Händen, die sich ineinanderfalten, von Köpfen, die sich andachtsvoll neigen, oder ganzen Apostelfiguren, die vor einer Erscheinung erschrocken in die Knie gehen, schon Motive seiner Altarbilder vorbereitete. Als eigenständige Kunstwerke galten ihm seine Zeichnungen nicht; dafür entstand erst später in der Renaissance ein eigener Markt.

Der Arbeitscharakter von Grünewalds Zeichnungen bedingte auch, dass oft mehrere Studien auf einem Papierbogen entstanden. So teilen sich das Kupferstichkabinett Berlin und das Kupferstichkabinett Dresden zwei ursprünglich zusammengehörende Blätter, die auf der einen Seite jeweils die Studie zu einem Heiligen aus dem Isenheimer Altar zeigen, auf der anderen Seite den Oberkörper des heiligen Sebastian aus dem gleichen Werk, noch ohne die Pfeile, die später in seinem Fleisch stecken, und ohne den roten Mantelumhang. Die Hände, die er fast wie ein Bodybuilder zusammendrückt, gehören Berlin, die Schultern, deren muskuläre Struktur und Anspannung sich äußerst realistisch abzeichnet, Dresden. Es scheint zum geplagten und gequälten Körper des Märtyrers zu passen, dass nicht einmal die Darstellung seines Körpers zusammenbleiben konnte. In solchen Überschneidungen vom Inhalt der Zeichnungen und der Geschichte ihrer Überlieferung liegt das Potenzial der Anrührung einer solchen Ausstellung.

So liegt die Sensation oft nicht allein darin, was wir sehen, sondern dass wir es überhaupt sehen können. Drei farbige Studien Grünewalds haben sich zum Beispiel als Collage erhalten: Sie wurden von Hans Pflock, Seidensticker, und einer der Zeugen, die am 1. September 1528 im Rat der Stadt Halle den Tod des Malers meldeten, in seine sehr kostbar veredelte Hausbibel geklebt. Eine wunderbare Vorstellung: dass sich einer, der für die gleichen Auftraggeber wie der Maler arbeitete, in dessen Atelier womöglich unter Kollegen eine Zeichnung aussuchen durfte, die Figuren ausschnitt und seinem größten Schatz einverleibte. Und die Verlegenheit der Forschung, die nun nicht weiß, welchem ursprünglichen Kontext denn nun zum Beispiel die Figur eines „aufwärtsstrebenden Mannes“, der recht freudig erregt die Arme ausbreitet, zuzuordnen ist, hat auch etwas Lustiges. Es bleibt ihr nichts übrig, als ihr Nichtwissen auch mal auszuhalten.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Matthias Grünewald, Zeichnungen und Gemälde, Kupferstichkabinett Berlin, bis 1. Juni. Katalog (Hatje Cantz) 35 €