Dramatisierter Amoklauf: Mit Pistolen in die neunte Klasse

Das Theater liebt Extremtaten: Felicitas Brucker sucht in ihrer Hamburger Inszenierung von Thomas Freyers "Amoklauf mein Kinderspiel" nach dem Grund der Gewalt.

Extremtat, hoch interessant für das Theater: Das Erfurter Gutenberg-Gymnasium im April 2002, einen Tag nach dem Amoklauf. Bild: dpa

Am Ende bleibt Angst, Reden von der Angst. Jeder der drei Schüler spricht einmal davon. Hefte und Aktenordner liegen durcheinander, Tafelwischwasser ist verkippt. Der Licht des Overhead-Projektors ist auf sie gerichtet, und ihre Furcht gilt der letzten Gewehrkugel. Doch unklar ist, ob sie selbst die Schützen sind oder ob sie, die da im Lichtkegel stehen, diejenigen sind, auf die sich die Waffe richtet.

Im Sinne der Versuchsanordnung dieses Abends ist die Antwort egal. Felicitas Brucker schafft es, in ihrer Inszenierung in der Nebenspielstätte des Hamburger Thalia Theaters von einem Amoklauf zu erzählen, ohne einen Amokläufer auf die Bühne zu holen. Sie kommt auch ohne Anleihen an Videospiele aus, die in Thomas Freyers Vorlage "Amoklauf mein Kinderspiel" eine wichtige Rolle spielen. Im ersten Teil des Textes, für den Freyer, 1981 in Gera geboren, mehrmals ausgezeichnet wurde, erlebt man die drei Schüler in Alltagsszenen. Kaufland, Klassenzimmer, Wohnzimmer sind die enge Welt, in denen weder Lehrer noch Eltern es schaffen, Perspektiven aufzuzeigen. Im zweiten Teil reden die beiden Schüler und die Schülerin, nur kurz als E, T und C bezeichnet, viel vom Spielen, aber meinen die 800 Schüsse, die in ihrer Schule abgefeuert werden. Die drei Schauspieler Lisa Arnold, Gabor Biedermann und Ole Lagerpusch wechseln die Rollen, spielen auch Eltern und Lehrer, aber bleiben doch immer Schüler mit einem Aggressionspotenzial, das nicht mal besonders auffällig scheint. Sie steigen auf die Umkleidespinde, werfen mit Äpfeln und nehmen sich in den Schwitzkasten.

So zu tun, als sei es von hier nur ein kleiner Schritt zum Amokschützen, vermeidet Brucker. Das, was sich der Vorstellungskraft entzieht - wie sie mit Pistole, Munition, Wollmütze über die Südtreppe in den Biologieraum eindringen, wo die neunte Klasse gerade Kuhaugen seziert -, das erzählen und berichten die drei Schüler, während sie in den Spinden kramen, Kleidung wechseln oder in alten Schulheften blättern. Möglich bleibt es allemal.

Thomas Freyer hat sein Stück vor dem Hintergrund des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium geschrieben. Solche Extremtat ist fürs Theater ein hochinteressanter Stoff, um über die Verfasstheit des Menschen zu erzählen. Im vergangenen Jahr hatte auch der Dramatiker Lars Norén einen beeindruckenden Monolog vorgelegt, entwickelt aus den hinterlassenen Internet- und Tagebucheintragungen des Emsdettener Amokläufers. In "20. November" kommt ein zutiefst gedemütigter Mensch zu Wort, der jetzt selbst demütigen will und keine Gelegenheit zu wütender Anklage auslässt. Inszeniert hat Norén den Text im kleinen Berliner Theater Ballhaus Ost mit der Schauspielerin Anne Tismer, die in Kapuzenpulli als halb Hiphopper, halb Söldner mit vor Wut geschwollenen Halsadern ziemlich spürbar machte, dass sie aufzuhalten unmöglich ist.

Wo Norén und Tismer Ernst machen, bleibt Bruckers Abend verspielt und weniger typenexemplarisch. Die Verkettung kausaler Zusammenhänge legt sie vor allem in Spielweisen und Perspektivwechsel. So ist zu Beginn die Bühne mit schwarzgelbem Absperrband gesichert, als sei die Tat bereits geschehen. Die Schüler öffnen die Resopalwandschränke, in denen Fotos oder eine Gitarre verborgen sind, wie Erinnerungen aus früherer Zeit. Wenn später das Absperrband verschwindet, rückt die Gewalt ein Stück näher. Wer nur spielen will, steht als Außenseiter am Rand. Gruppendruck wird deutlich. Suggestiv kippt Spaß in Ernst um, ein Witz mündet plötzlich im Streit. Gabor Biedermann muss brav angezogen die Lehrerin spielen, in die Zange genommen von den anderen beiden, die sich gegenseitig zum head shot animieren.

Die 33 Jahre alte Felicitas Brucker beherrscht das Spiel mit Brüchen und doppelten Böden. Sie setzt nicht auf falsche Effekte. Man merkt an dieser Inszenierung, wie genau und hartnäckig sie an Texten arbeitet. Aber in ein komplexes Denk- und Gefühlssystem dringt sie in diesem Fall nicht ein. Die Motivlage der Amokschützen ist nun mal das, worüber man an so einem Abend Genaueres erfahren will. Hinweise böte Freyers Stoff genügend, aber so ermüden einen die drei pubertär Jugendlichen doch mehr, als dass sie Erkenntnis stiften.

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