Schluck. Gnadentod

Wer wissen will, wie schlecht es um die Menschen bestellt ist, sollte neue Dramen lesen. Die Zukunft wird nicht lustig, wie der Stückemarkt des Theatertreffens wieder zeigt

Wiege dich ruhig in Sicherheit. Draußen stehen die Kastanien in voller Blüte, innen hat jetzt jeder ein Glas in der Hand. Angenehme Erwartung mischt sich in das Gemurmel der plaudernden Stimmen. Gemütlich, denkt man noch, da nehmen die Schauspieler Platz, überall zwischen den Leuten im Foyer des Hauses der Berliner Festspiele. Von da an steht jeder unter Beobachtung, wenn die Köpfe sich hin und her drehen, um den Stimmen der Schauspieler zu folgen.

Diese Anordnung steht der Lesung des Stücks „Gegen den Fortschritt“ von Esteve Soler gut, beginnen dessen Szenen doch auch in traulichen Konstellationen, um dann im Sprinttempo ungemütlich zu werden. Man lernt ein altes Paar kennen, zu dem ein Kind aus dem Fernsehprogramm steigt, und ihnen fällt nicht mehr ein, als dafür nach einem Müllsack zu suchen. Man wird Zeuge eines Straßenbahnunfalls und einer Märchenstunde. Jede dieser Episoden endet übel, und man wundert sich nicht wirklich, dass am Ende Tiere reden, die das Kroppzeug Mensch mit Knüppeln im Zaum halten. Dass das ganze mit schwarzem Humor konsumierbar gemacht wird, versteht sich.

Trotzdem, Schluck. Ein echtes Stückemarkt-Erlebnis. Die Lesungen noch nicht aufgeführter Stücke, von bekannten Regisseuren (hier: Lars-Ole Walburg) eingerichtet mit superguten Schauspielern – hier etwa Margit Bendokat, Wolfram Koch, Sandra Hüller –, bieten traditionell ein Paralleluniversum des Theatertreffens. Das Surreale, das Monströse, das Utopische und das Verzweifelte haben regelmäßig einen starken Auftritt in den neuen Dramen, die eine Jury zuvor aus Einsendungen auswählt. Jedes Jahr wird der Berg der Manuskripte höher, 646 Stücke aus 33 europäischen Ländern waren es diesmal, und man muss sich ihre Bewältigung auch als sportliche Leistung denken.

„Was praktisch völlig fehlt, sind heitere Texte, komische Stücke, prall lebensfrohe“, muss die Dramatikerin Dea Loher, Teil der fünfköpfigen Jury, denn auch in einem Resümee konstatieren. Bewundert da aber auch die „geballte Qualität“ der Stücke aus Spanien und Katalonien, von denen zwei für die Vorstellung ausgewählt worden sind. „Meine Seele anderswo“ von José Manuel Mora hat Loher mit einer poetischen Sprache und einer unerbittlichen Geschichte berührt.

Auf der Seitenbühne des Festspielhauses hat Sebastian Nübling dafür ein erdiges Feld anlegen lassen, in das Katharina Schmalenberg, Sebastian Rudolph und andere in eine Dialogfolge eintreten, deren Kosmos so eng begrenzt ist wie das erdige Feld: drei Generationen von Männern und Frauen, die den Lehm nicht aus dem Gesicht kriegen und alten Hunden den Gnadentod geben. Noch schmerzhafter ist, dass die Paare, die da ein ganzes Leben miteinander verbringen, trotz der Enge nichts von den Wünschen des anderen wissen. Wenn sie darüber zu reden beginnen, ist es immer schon zu spät.

Ein Abend steht noch aus im Stückemarkt, mit einem flämischen und einem russischen Drama. Das zumindest, „Parikmacherscha – Die Friseuse“ von Sergej Medwedew, ist Dea Loher unter 646 Texten als der einzige aufgefallen, bei dem sie sehr viel gelacht hat. „Verzweiflungskomik, aber eben ungemein wohltuend.“ Nicht zuletzt erweckt die Besetzung der Lesung am 15. Mai mit Brigitte Minichmayr und Ernst Stötzner große Vorfreude.

KATRIN BETTINA MÜLLER