"Literaturen" und "Merkur" über '68: Party war 1968 immer

Zwei Zeitschriften lassen noch einmal '68 Revue passieren: "Literaturen" feiert die Befreiung des Daseins, im "Merkur" erinnert sich Karl Heinz Bohrer.

Der deutsch-amerikanische Philosoph und Soziologe Herbert Marcuse. Bild: dpa

Vierzig Jahre danach erweist sich 1968 als das erfolgreichste kapitalistischste Projekt der Geschichte. Das System sitzt heute nicht trotz, sondern wegen 68 weltweit fester im Sattel als jemals zuvor. Auf verbreiterter Geschäftsgrundlage wurde es leistungsfähiger durch Liberalisierung, attraktiver durch Entkrampfung der Lebensstile - ein immenser Legitimationsgewinn. 68 verstärkte massiv ohnehin ablaufende Individualisierungsprozesse, ohne die der Siegeszug der globalen Unterhaltungsindustrie, von Bill Gates und Ben&Jerrys Ice Cream nicht denkbar wäre. Wenn es 1968 nicht gegeben hätte, hätte der Kapitalismus dieses Jahr erfinden müssen.

Der Triumph des Kapitalismus durch 1968 liegt jedoch vor allem in der für jeden offensichtlichen Vergeblichkeit einer antikapitalistischen Revolte: Eine andere Welt ist eben nicht möglich, Verweigerung und Subversion wirken nach 1968 stets affirmativ, Revolution im Westen ist ohnehin nicht machbar - das sind die Lehren aus 1968. Wer redet heute noch von Spätkapitalismus? Während auf der anderen Straßenseite Springer Rekordrenditen einfährt, benennt man die Straße nach Rudi Dutschke. Wahrscheinlich wäre Rudi heute zugleich Bild-Kolumnist und Vorstand der taz-Genossenschaft, was er dialektisch als Sieg der 68er interpretieren würde. Niklas Luhmann hatte schon recht, als er vor 20 Jahren in der taz den Effekt der Schüsse auf Benno Ohnesorg beschrieb: "Von da ab konnte man über den Rasen laufen."

Das alles mag man beklagen oder bejubeln. Erfrischend ist es jedenfalls, wenn statt der lärmenden Zeitzeugen die Nachgeborenen sich jener merkwürdigen Gleichzeitigkeit von Veränderung und Folgenlosigkeit annehmen. So geschehen in Literaturen: René Aguigah zeichnet die parallelen Abläufe um 1968 nach: "Zwei, drei, viele 68" gab es, eine "ungeahnte Öffnung der Verhältnisse"; die Erinnerung daran sollte, so seine sanft utopische Reminiszenz, gegen politische Alternativlosigkeiten heute wappnen. Jutta Person verweist auf die "reale Umwälzung der Geschlechterverhältnisse". Doch statt auf den Feminismus würde man nurmehr auf die Brüste von Uschi Obermaier starren. Zärtlich streichelt Ronald Düker Uschis kleinen Busen und die Revoluzzerbärte als "bedeutungsgeladene Körpermoden", assistiert von Marshall McLuhan und Vilém Flusser: gegen Pin-up-Fülle und glattrasierte Faschisten.

In klassischer 68er-Manier diagnostiziert Jens Balzer, Pop-Redakteur der Berliner Zeitung, bei Götz Aly einfach falsches Bewusstsein: "Seine Wahrnehmung von Kunst reicht über gelegentliche Theater- und Opernbesuche nicht hinaus." Die "dauer-erigierten Debatten" seien ein "unermüdliches Penis-Fechten" zwischen "Theorie-Hengsten", die Marx und Marcuse lasen, statt Hendrix zu hören. Aber unphallisch ist auch die Popgeschichte nicht gewesen - oder hatte man sich da bislang verhört? Dennoch lauscht man gerne Balzers Hohelied auf Hippies und die "Befreiung des Daseins durch den Einsatz von Musik und Stil" - bis man womöglich von einem Jimi-Hendrix-Fan als Chef entlassen wird.

Wer wissen will, was 1968 eigentlich war, der lese Karl Heinz Bohrers Bilanz. Im aktuellen Merkur hat dessen Herausgeber noch einmal großartige Szenen aus seinen Erinnerungen zusammengestellt: ein Lehrbuchtext für jene, die nicht dabei waren. Alle tauchen auf: Künstler, Kommunarden, neomarxistische Dozenten, Studenten in Lederjacken, FAZ-Herausgeber, Dutschke, Krahl - und immer wieder Jürgen Habermas als Bezugspunkt und Antagonist der Bewegung, die "epochal notwendig" gewesen sei. "Über Nacht wurde in Deutschland öffentlich intellektuell Fraktur gesprochen." "Party war immer", in Hamburg, London oder Frankfurt. Von dieser "wunderbaren Episode des 20. Jahrhunderts" lässt sich die Gewalt der RAF nicht trennen. Ein Freund erklärt dem spätbürgerlichen Element Bohrer 1970: "Eigentlich müssen wir dich umlegen, später, sorry." Und von der an ihrem letzten Frankfurter Abend auf dem Fußboden ketterauchenden Ulrike Meinhof trennt Bohrer nach Jahren "distanzierter Freundschaft" das Entscheidende: "Er hatte keine Welt hinter dieser Welt entdeckt."

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