Berliner Theatertreffen: Unterhaltung, Witz und Stars

Mit dem Stück "Platz Mangel" des Regisseurs Christoph Marthaler ging das diesjährige Berliner Theatertreffen zu Ende. Der Mangel an Entdeckungen wurde gut überspielt.

Über zu viel Fett reden die Patienten der "Dr. Dr. Bläsis Höhen- und Tiefenklinik". Bild: berliner festspiele

Sieben Inszenierungen, zwei szenische Lesungen, 23 Stunden Theater und nur zehn Minuten gepennt im Dunkeln des Zuschauerraums, das ist schon mal persönlich eine ziemlich positive Bilanz des Theatertreffens 2008. Zuverlässig fuhren Schauspieler und Regisseure genau die Qualitäten auf, die ihren Ruf großgemacht haben. Wie jedes Jahr (seit der Gründung vor 45 Jahren) lief der glückliche Kartenbesitzer an vielen hochgehaltenen "Suche 1 Karte"- Schildern vorbei, und beinahe alle drei Tage gab es ein Büfett für die Gäste der Berliner Premieren. Da soll man sich mal nicht verwöhnt fühlen.

Das gute Leben fällt normalerweise nicht unter die Stoffe, die diskursiven Mehrgewinn bringen. Dank Christoph Marthaler, dem mit der Produktion "Platz Mangel" aus der Roten Fabrik Zürich der Abschluss des Festivals in Berlin vorbehalten war, gelang aber selbst das. "Fette sich, wer kann" dichtet Ueli Jäggi in einem Hochgeschwindigkeitsmonolog über das fettgesteuerte Leben. Nicht vom Mangel wurde geredet, sondern vom Zuviel an Schenkeln und Po. Äußerst sanft massierten die Stimmen des neunköpfigen Ensembles die Symptome der Wohlstandskrankheiten, die in "Dr. Dr. Bläsis Höhen- und Tiefenklinik" therapiert wurden. Somnambul und hingebungsvoll sangen sie Gustav Mahler oder verabreichten Modern Talking und die Johannespassion von Bach in kleinen Dosen.

Doch so wohlgefällig und harmlos, wie das alles tat, war es dennoch nicht, zum Glück. Denn mit nur kleinen Schlenkern erreichte die musikalische Revue in Textausbrüchen, die ein Erzengel Gabriel in der Pförtnerloge spricht oder ein Moderator mit werbend modulierter Stimme vorstellt, die Themenfelder, wo Leib und Leben allein unter dem Aspekt ihrer Kapitalisierung und des Marktes angesehen werden. Am Ende wird der Freitod als sicherste Investition in die Zukunft des Systems empfohlen: Was hernach über eine Organspende eingenommen wird, legt Dr. Dr. Bläsis Höhen- und Tiefenklinik in eine angenehme Gestaltung der Zeit davor an. Anfangs klingt noch nach Sciencefiction, wenn die Erwerbung einer Musterwohnung im Jenseits empfohlen wird, am Ende gleicht das fantastisch Übertriebene den Verhältnissen hiernieden immer mehr. Und man wundert sich gar nicht mehr, wenn ein Anlageberater in den Ton einer Predigt verfällt, um den rechten Weg (zum Gewinn seiner Gesellschaft) zu weisen.

Ja, dieses Schmunzeln und Kichern, was da für alle fühl- und hörbar durch die Zuschauerreihen rollt, muss auch für die Marthalerfamilie oben auf der Bühne eine Erleichterung gewesen sein. Gilt doch das Publikum des Theatertreffens vielen Ensembles, auch der schon mehrfach eingeladenen Häuser, als Eiswand, die wesentlich schwerer zu nehmen ist, als die Zuschauer im eigenen Haus. Kritiker, die nicht mit dem gemeinen Volk klatschen, die reihenweise ihre Coolness zur Schau stellen, wenn sie sehen, was die sieben Kollegen (Eva Behrendt, Karin Czerny, Jürgen Berger, Stefan Keim, Hartmut Krug, Peter Müller und Christopher Schmidt), die die Jury des Theatertreffens bilden, ausgesucht haben.

Als Beleg für deren Mühe gibt es im Programmheft vorn eine Karte, die farbig markiert, in welcher Stadt wie viele Inszenierungen angeschaut wurden. 25 in Zürich, 21 in Wien, 19 in München, 5 in Jena, 6 in Halle, 22 in Hamburg, 7 in Freiburg, 1 in Anklam, 1 in Aachen, 69 in Berlin usw: 365 Theaterbesuche waren es insgesamt. Und dass bei diesen vielen Suchbewegungen dann doch hauptsächlich die bekannten Protagonisten (wie die vier Regisseure Thalheimer, Gosch, Petras, Ostermeier) herauskamen, war der Jury, die gern mehr Entdeckungen gemacht hätte, selbst etwas peinlich, wie man aus einem Text von Eva Behrendt über den Findungsprozess in Theater heute lesen konnte.

Die Ausnahme bildete die Nonstop-Installation "Die Erscheinungen der Martha Rubin" der Theatergruppe Signa (siehe taz vom 7. Mai), eine Produktion des Schauspiel Kölns. Ihr Konzept sieht den Besuch eines simulierten Wohnwagendorfs vor, dessen Bewohner von Vertreibung bedroht sind. Die Interaktion mit den Besuchern war teilweise allerdings arg dilettantisch umgesetzt, und als zu plump empfanden viele die Animation. Meist hatte man mehr von der Geschichte vorher gelesen, als man vor Ort erfuhr. So blieb Signa letztlich mehr ein Signal für den Wunsch nach anderen Qualitäten, als sie das gut subventionierte Theater der Großstädte zu bieten hat.

Dabei waren viele Inszenierungen überzeugend, auch gerade der klassischen Stoffe. Vom Thalia Theater Hamburg kam eine "Maria Stuart", der Stephan Kimmig eiskalt jeden Anschein des Idealistischen und Heroischen ausgetrieben hatte, den Schiller'schen Ernst und die Strenge jedoch beibehielt. Taktieren im Sinne des Machterhalts, das ist es, was Königin Elisabeth, die Paula Dombrowski schmallippig, rothaarig und mit Anspannung in jedem verkniffenen kleinen Muskel spielt, und ihre Lords im Kabinett aufführen. Schillers Texte klingen plötzlich, wenn man sich eingehört hat in die fintenreiche Sprache, wie Politkabarett, in dem ein jeder stets den Wunsch des Volkes im Mund führt, um knallharte Eigeninteressen zu legitimieren. Wie sie Verantwortung von sich schieben, wie sie sich stets ein Hintertürchen offen halten, man glaubt Beratern und Lobbyisten zuzuschauen. Nur das Leichte, Vergnügliche und sinnlich Opulente hielt diese Aufführung mit aller Macht zurück: Als wäre die sparsame Ästhetik selbst eine Form von Selbstkasteiung, mit der diese Politikerkaste sich ein Recht auf Macht und Geld zu erwerben glaubt. Man kam da selbst ganz schmallippig heraus, ja so sieht es aus heute, das ist unsere Tragödie.

Dass Tragödie heute auch ganz anders aussehen kann, bewies Jan Bosse mit einem "Hamlet", den er am Schauspielhaus Zürich mit Joachim Meyerhoff als Hamlet und Edgar Selge als seinem Besorgnis heuchelnden, den Bruder meuchelnden Onkel Claudius inszeniert hat. Inmitten eines mit Spiegeln ausgeschlagenen Ballsaals sitzt das Publikum an langen Tischen und kann anfangs noch glauben, etwas von der Pastete abzubekommen, die erst zum Begräbnis von Hamlets Vater serviert und kurz darauf zur Hochzeit seiner Mutter mit Claudius wieder aufgewärmt wurde. Teller hat man vor sich stehen, silbern sogar, bald aber fliegen sie durch die Luft, weil Hamlet in seiner Rebellion gegen den neuen Vater das Tischtuch wegreißt.

Joachim Meyerhoff erweist sich dabei nicht nur als Meister des Überraschungsangriffs und des Slapsticks, sondern auch als hervorragender Sprachbeschauer. Wie er die Sätze Shakespeares hervorholt und wendet, bis sie unvermutet passen und einen Sinn erhalten haben, der ebenso kalauernd wie philosophisch ist, das zu verfolgen, macht großen Spaß. Turnt er dabei auch übertrieben linkisch, wie ein mit knapp vierzig noch immer nicht erwachsen gewordener Sohn, zwischen den Bankettgästen umher, so verführt er die doch zum ständigen Denksport - und dass man sich selbst so klug dabei fühlen kann, macht nicht zuletzt den Reiz der Inszenierung aus.

Nicht klug, sondern zerrissen, weil vom Denken und Fühlen in ganz unterschiedliche Richtungen gezogen wurde, fühlte man sich dagegen bei Sebastian Nüblings Inszenierung "Pornographie" von Simon Stephens (siehe taz vom 9. Mai), vom deutschen Schauspielhaus Hamburg und dem Schauspiel Hannover koproduziert. Den sieben Geschichten von sieben Erzählern zu folgen, war schon deshalb aufregend, weil sie einen nie zurande kommen ließen in einem Schwanken zwischen Empathie und Ablehnung. Wer das Richtige sagte, wollte das Falsche, wer das Falsche sagte, wollte das Richtige. Die sieben Storys, die in London 2005 während der Nominierung als Olympiastadt und den Anschlägen auf die U-Bahn kurz darauf spielen, verbinden die Normalität und den Verstoß gegen gesellschaftliche Regeln dabei auf sehr vielfältige Weise. Und die Bewegung auf der Bühne, mit der alle zusammen stets an der Rekonstruktion eines Turmbaus zu Babel arbeiten, oder wie die vielen Fußgänger, die in der Nacht nach den Anschlägen nach Hause laufen mussten, große Strecken auf der Bühne zurücklegen, hielt den sprachlichen Bildern der Vereinzelung eine Choreografie der Gruppe entgegen.

Am Ende kann man sagen, das war ein guter Jahrgang des deutschsprachigen Stadttheaters, wenn auch mehr unterhaltsam als kontrovers. Die Klage darüber, dass alles ein wenig zu sicher und gut geölt schien und das Sperrige oder Überfordernde fehlte, kann sich eben auch nur leisten, wer von einem System wie dem deutschsprachigen Theater verwöhnt ist. So litt das Festival eigentlich nur unter einem Phantomschmerz, dem Bewusstsein der Grenzen der eigenen Gattung. Denn natürlich umfasst die Welt des Theaters mehr als das, die Szene jenseits der städtischen Institutionen hat sich erweitert und internationalisiert.

Aber davon bekommt man gerade in diesem Sommer noch genug: Der Festivalsommer ist beängstigend dicht. Den Anfang mache die Theaterformen in Braunschweig (ab 4. Juni), die 500 Braunschweiger für eine Aufführung der "Perser" rekrutiert haben; das Performing Arts Festival Intransit im Berliner Haus der Kulturen der Welt folgt (ab 11. Juni), das mit einer Hommage an die amerikanisch-feministische Konzeptkünstlerin Joan Jonas beginnt; die Biennale Wiesbaden kommt wieder mit "Neuen Stücken aus Europa" (ab 12. Juni), die allein zeitgenössische Dramatik in deutschen Übersetzungen präsentiert; die Biennale Bonn konzentriert sich mit vielen Theaterproduktionen vom Bosporus (ab 14. Juni) auf die Türkei und schließlich verspricht das große Festival "Theater der Welt" ab dem 19. Juni die kleine Stadt Halle auf den Kopf zu stellen: So viele Blicke über die Grenzen des deutschsprachigen Theaters wie über das Format des abgeschlossenen Dramas wie dieses Jahr gab es noch nicht oft.

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Geboren 1957 in Köln. Seit Mitte der 80er Jahre Autorin für die taz (über bildende Kunst, Tanz, Theater, Film), seit 2003 Redakteurin.

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