cannescannes
: 13 Millionen New Yorker als Statisten

Charlie Kaufmans wuchernde, kaum zu entziffernde Zeichen sind eine Wohltat neben Wim Wenders’ geordneter Schule der Symbolik

Kann man die ganze Welt erzählen? Charlie Kaufman versucht es. Er hat bisher als Drehbuchautor für Spike Jonze und Michel Gondry gearbeitet („Being John Malkovich“, „Adaptation“, „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“). Jetzt stellt er sein Regiedebüt „Synecdoche, New York“ im Wettbewerb vor. Synekdoche ist ein Begriff aus der Rhetorik; er bezeichnet eine Sprachfigur, bei der der Teil für das Ganze oder umgekehrt das Ganze für den Teil steht: der Stein für das Gebirge, das Gebirge für den Stein.

In Kaufmans Film entsteht eine Stadt in einem Hangar in New York, es ist ein Double der echten Stadt und zugleich eine große Theaterbühne, auf der der Regisseur Caden Cotard (Philip Seymour Hoffman) ein Stück einstudiert. Je länger er daran arbeitet, umso weiter entfernt er sich von einer nachvollziehbaren Form, und je weniger klar die Kontur des Stückes ist, umso wuchernder ist auch der Film. Was wäre, fragt sich Caden in einer Szene, wenn die 13 Millionen New Yorker keine Statisten wären, sondern Figuren mit ihrer je eigenen Geschichte? Man kann die Frage weiterführen: Was wäre, wenn man unentwegt alles von jedem erzählte?

Chaos herrschte und die Zeit liefe einem davon. Genau das geschieht in „Synecdoche, New York“. Die Figuren – im Stück genauso wie im Film – verdoppeln und verdreifachen sich; sie sind Film- und Bühnenfigur und als solche kaum auseinanderzuhalten, lauter Doubles und Alter Egos in einem promisken Reigen. Diese Figuren werden alt, krank und sterben.

Nicht zufällig liegt einmal, noch am Anfang des Films, vor der Kamera die erste Seite von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ aufgeschlagen. Erst als er dem Tode nahe ist, erkennt Prousts Icherzähler, wie er sein großes Romanprojekt erfolgreich angehen kann – nur fehlt ihm jetzt die Zeit zur Umsetzung. Der gerade gelesene Roman wird damit zu einem Weg für ein Buch, das eigentlich noch geschrieben werden muss. Dementsprechend ist der Film, den man mit „Synecdoche, New York“ sieht, wie der Weg zu einem Film, der noch gedreht werden muss.

Das ist selbstreflexiv, manchmal ermüdend und manchmal wahnwitzig – und darüber hinaus ein Theater der Seele, da Kaufman Krisen, Neurosen, heimliche Wünsche und innere Bilder umstandslos in Szene setzt, ohne dabei Rücksicht auf die Sperren zu nehmen, die das Bewusstsein errichtet. Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, kein Wunder also, dass Cadens erwachsene Tochter vor ihm nackt in der Peepshow tanzt oder Hazel (Samantha Morton), das Kassenfräulein, ein Haus besitzt, das buchstäblich „on fire“ ist. In den Zimmerecken züngeln Flammen, Qualm füllt Teile der Räume. Niemand, der dieses Haus betritt, der hier schläft oder Sex hat, nimmt daran Anstoß, bis Hazel eines Tages tatsächlich einer Rauchvergiftung erliegt. Der Traum hat die Wirklichkeit infiziert.

Wim Wenders’ Wettbewerbsbeitrag „Palermo Shooting“, der neben „Wolke 9“ von Andreas Dresen der einzige deutsche Langfilm in der offiziellen Selektion ist, versucht sich an etwas Vergleichbarem, kommt aber zu einem ganz anderen Ergebnis. Auch hier steckt ein Mann, ein Künstler zumal, in der Mitte seines Lebens in einer Krise wie Caden Cotard am Anfang von „Synecdoche, New York“. Auch hier überlagern sich die Ebene des Traums und die des realen Filmgeschehens. Dabei zieht es Wenders zum sicher entzifferbaren Symbol, zu zerfließenden Uhren, Totenschädeln und Gebeinen, zu einem Mann in grauer Kutte, der Pfeile abschießt und sich als Tod vorstellt.

Traumsequenzen sind wegen der verzogenen Proportionen und der entsättigten Farbpalette klar erkennbar. Und weil der Regisseur den Bildern misstraut, bietet die Tonspur zahlreiche Sentenzen auf, um das Leben, den Tod und das Verstreichen der Zeit zu erklären. Kaufmans wuchernde, kaum zu entfziffernde Zeichen sind dagegen eine Wohltat. CRISTINA NORD