Neues zum Thema Überwachung: George Orwell hat sich geirrt

Sind wir auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft? Und wenn ja, in was für eine? In drei neuen Büchern diskutieren Theoretiker und Praktiker diese Fragen.

Der Sammelband "1984.exe" folgt einer richtigen Einsicht: Der akademische Diskurs und die Praxis, das Nachdenken über Technologien des Überwachens und das Handeln mit, in und gegen sie geschahen lange Zeit unabhängig voneinander. Erst über einen Austausch von in Praxis gewonnener Erfahrung und fundierter Reflexion können jedoch das Was und Warum des gegenwärtigen Trends zur Überwachungsgesellschaft transparent gemacht werden - und damit auch deren soziale wie politische Folgen.

Leider beginnt das Dilemma der ambitionierten Aufsatzsammlung bereits im Titel. Zwei Dinge daran sind unglücklich: "1984" und ".exe". Denn erstens ist Orwells Vision nicht Realität geworden: Überwachung ist heute weder staatliches Monopol noch zwangsbasiert. Vielmehr gibt es eine Vielzahl privater wie öffentlicher überwachender Institutionen, die die Einwilligung der Individuen durch Verführung (Rabattkarten) oder Überredung ("Es dient der Sicherheit!") erreichen. Und zweitens gibt es keine automatische Exekution der Programme. Weder die Sicherheitsingenieure noch ihre Kritiker wissen genau, welche Wirkungen die Technologien, Gesetze und Einrichtungen in der Praxis zeitigen. Klar ist nur: Es sind nicht diejenigen, die man sich erhofft hatte; die Nebenwirkungen sind unüberschaubar.

Ausgerechnet im einführenden Aufsatz von Koherausgeber Sandro Gaycken treten die konzeptuellen Schwächen des Bandes besonders zutage. Gaycken behauptet eine doppelte Entwicklung: Einerseits werde in den informationsverarbeitenden Maschinen Technik "vergeistigt", andererseits werde der Geist "technisiert" in Algorithmen, die intelligentes Verhalten (Sprechen, Urteilen) erfolgreich nachmodellieren.

Nun sind Kommunikation und Sinn, die in technischen Medien vermittelt werden, nicht allein dadurch schon selbst wesentlich technisch geworden. Ein Begriff des Mediums, der viele der Konfusionen lösen könnte, fehlt bei Gaycken völlig, genauso unbenutzt bleiben die Ansätze Bruno Latours zu einer Akteurs-Netzwerktheorie. Wenn jedoch Technik als einzige Determinante gesetzt wird, sind Schlussfolgerungen, nach denen uns "die Kontrolle des bewussten und unterbewussten [sic!], physischen und geistigen Lebens" bevorstehe, so theoretisch unausweichlich wie schlecht begründet.

Andere Beiträge wiederholen diesen Fehler einer Fixierung auf den Apparat. Niels Gottschalk-Mazouz erkennt in seinem Beitrag richtig, dass Überwachung immer schon technisiert gewesen ist und das Spezifikum gegenwärtiger Verhältnisse darin liegt, dass von technischen Geräten generierte Daten heute auch technisch automatisiert weiterverarbeitet werden.

Welche Handlungspotenziale jedoch innerhalb dieser "TT-Überwachung" verbleiben, wird nicht einmal mehr angesprochen: Der Mensch ist zwischen T(echnik) und T(echnik) einfach aus dem Blickfeld gefallen. Die Schlussfolgerung, dass ihm nichts mehr zu tun bleibt, ist schon methodisch vorausgesetzt, als ob Überwachung eine Funktion von Schaltkreisen wäre, und nicht auch ein soziales Verhältnis, das Asymmetrien, Widerstände, Überschüsse generiert.

Während der wissenschaftliche Ertrag des Bandes dünn bleibt, lesen sich jene Beiträge mit Gewinn, die sich darauf beschränken, kenntnisreich und verständlich in Sachzusammenhänge einzuführen. So schildert Frank Rieger, welche Abhörtechniken für Mobiltelefone derzeit im Einsatz sind und welchen Erfolg mögliche Abwehrmaßnahmen versprechen. Dirk Engling unternimmt dasselbe für die Vorratsdatenspeicherung und kommt dabei wie Rieger zu dem Ergebnis, dass professionelle Kriminelle kein Problem haben, die jeweiligen Fahndungsinstrumente ins Leere laufen zu lassen, während der Normalbürger die Kollateralschäden tragen muss. Gerrit Hornung führt in die juristischen Hintergründe des Datenschutzes ein und in die Wandlungen, denen er unterliegt.

So steht sich der Diskurs der Überwachungsgegner mitunter selbst im Weg. Nicht dass Misstrauen gegen den Staat in diesem Fall falsch wäre, es ist sogar notwendig. Problematisch ist jedoch eine Rhetorik der Unterstellung und des Konjunktivs ("der Staat könnte"), die letztlich wenig beweisen kann und somit auf denselben Prämissen ruht, mit denen sich auch staatliche Schnüffelei legitimiert: Wo man nichts Genaues weiß, darf man alles, und zwar stets das Schlimmste, vermuten.

Weiter noch: Die Kritiker laufen Gefahr, zu Erfüllungsgehilfen des Sicherheitsdenkens zu werden, wenn sie durch Skandalisierung die lähmende Vorstellung verbreiten, "die" Kontrolleure seien ohnehin schon allmächtig, skrupellos und zu allem entschlossen. Stattdessen gilt es, die Paradoxien, Mythen und blinden Flecke der Überwachung zu entlarven, um unser Handlungspotenzial, unsere Freiheit in alldem zu erkennen.

Unverständlich bleibt auch, warum kaum einer der Beiträge Anleihen beim angelsächsischen Diskurs der "Surveillance Studies" macht. Der Hamburger Kriminologie Nils Zurawski hat bereits im vergangenen Jahr einen Aufsatzband zur Einführung in dieses prosperierende Forschungsfeld vorgelegt. Darin heißt es programmatisch, dass Überwachung mehr ist als ihr disziplinierender Effekt: nämlich eine "totale soziale Tatsache", ein "Konglomerat aus Maßnahmen, Zielen, Technologien sowie gesellschaftlichen Bedingungen und Konstellationen".

Entschärft man den Ton, kommt man den verborgenen Winkelzügen der Überwachung eher auf die Spur. Dann begreift man etwa, wie der Politologe Eric Töpfer im Zurawski-Band, dass es nicht "die" Videoüberwachung gibt, sondern dass sich dahinter ein Sammelbegriff für verschiedene Praktiken (und eben nicht: Techniken) verbirgt, die nur in ihrer jeweiligen Anwendungsform beurteilt werden können.

Dass unsere Gesellschaft nicht dem Paradigma "Überwachung", sondern dem der "Sicherheit" folgt, ist die These der Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein und Peer Stolle. Sie konstatieren, dass sich unser Verständnis von sozialer Kontrolle in den vergangenen Jahren erheblich und mit weitreichenden Folgen gewandelt habe. Maßnahmen wie Onlinedurchsuchungen und Vorratsdatenspeicherung seien Ausdruck eines Wandels des gesellschaftlichen Verständnisses von Sicherheit: Diese wird "zum Regime des täglichen Lebens", das sich alle anderen Werte (Freiheit, demokratische Teilhabe) unterordnet und paradoxerweise nur funktionieren kann, solange ein Status permanenter Verunsicherung aufrechterhalten wird.

Will man die Formen gegenwärtiger Sozialkontrolle kritisieren und ihre gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick bekommen, so die Überzeugung von Stolle und Singelnstein, muss die Skandalisierung einzelner Instrumente der Sicherheitsgesellschaft immer zu kurz greifen. Folglich arbeiten sich die Autoren kenntnisreich und in systematischer Lektüre am theoretischen Diskurs ab. So erhält man einen fundierten Einblick in die aktuellen rechtswissenschaftlichen und kriminalpolitischen Diskussionen. Was dabei allerdings unter den Tisch fällt, ist die Veranschaulichung, das konkrete Exempel: die Berücksichtigung der Erfahrung, dass es unser Alltag und unsere gelebte Freiheit sind, die in der Überwachungsgesellschaft auf dem Spiel stehen.

Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.): "1984.exe. Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien". Transcript, Bielefeld 2008, 310 Seiten, 29,80 €Euro Tobias Singelnstein, Peer Stolle: "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert". 2., vollständig überarbeitete Auflage. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, 181 Seiten, 19,90 Euro Nils Zurawski (Hg.): "Surveillance Studies. Perspektiven eines Forschungsfeldes". Verlag Barbara Budrich, Opladen 2007, 183 Seiten, 19,90 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.