Urteil zum Esra-Roman: "Zu eindeutig, zu provokativ"

Mit seinem Roman "Esra" hat Maxim Biller Grenzen überschritten, sagt Verlagsjurist Rainer Dresen. Und sagt, was Biller hätte anders machen können.

Sieht im Urteil auch einen Fortschritt für die Kunstfreiheit: Rainer Dresen. Bild: privat

taz: Herr Dresen, müssen Schriftsteller nach dem "Esra"-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts künftig vorsichtiger sein als bisher?

Rainer Dresen: Nein. Karlsruhe hat die bisherige Linie der Rechtsprechung bestätigt. Da wurde nichts verschärft.

Sie haben mit diesem Urteil also gerechnet?

Dass die Intimsphäre konkreter Personen in der Abwägung höher gewichtet wird als die Kunstfreiheit, das hat mich überhaupt nicht überrascht. Im Ergebnis haben das ja auch alle vier mit dem Fall befassten Instanzen so gesehen: das Landgericht München, das Oberlandesgericht, der Bundesgerichtshof und jetzt auch das Bundesverfassungsgericht. Das zeigt doch, dass man den Fall eigentlich kaum anders entscheiden konnte.

Rainer Dresen 43, ist Leiter der Rechtsabteilung der Verlagsgruppe Random House, die zum Bertelsmann-Konzern gehört. In dieser Eigenschaft vertritt er immer wieder verklagte Autoren - von Günter Grass bis Dieter Bohlen - vor Gericht. Bei Buchmarkt.de schreibt er eine Kolumne, vor allem über urheberrechtliche Fragen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft war er zunächst Rechtsanwalt in Stuttgart und San Francisco.

Drei von acht Verfassungsrichtern hätten die Kunstfreiheit höher gewichtet.

Die Haltung "Wenn das Kunst ist, dann darf Kunst alles" hat sich zu recht nicht durchgesetzt. Immerhin wird der Schutz der Intimsphäre aus der Menschenwürde abgeleitet - und das ist der höchste Wert des Grundgesetzes.

Hätte der Verlag Kiepenheuer & Witsch auf die Verfassungsbeschwerde verzichten sollen?

Ich finde es natürlich gut, wenn sich ein Verlag derart massiv vor seinen Autor stellt. Aber das Buch "Esra" war vielleicht nicht der beste Anlass. Zu eindeutig und zu provokativ hat der Autor Maxim Biller hier Grenzen überschritten. Er hat diese Überschreitung ja auch im Buch mehrfach thematisiert. So sagt etwa Esra sinngemäß zum Ich-Erzähler Adam, sie wolle ihm nicht ihre Brüste zeigen, um später dann zu lesen, sie habe ihm die Brüste gezeigt.

Alle reden nur über Sex, aber auch die beschriebene Krankheit des Kindes hat im Prozess eine wichtige Rolle gespielt.

Ja, das war die zweite eindeutige Grenzüberschreitung. Es kann nicht sein, dass ein klar erkennbares Kind möglicherweise erst aus einem Buch erfährt, dass es eine tödliche Krankheit hat.

Zu welcher Verfremdung der Figur Esra hätten Sie als Verlagsjurist dem Autor geraten?

Sie hätte so verfremdet werden müssen, dass sie auch für ihr engstes Umfeld nicht mehr eindeutig als die Exfreundin des Autors erkennbar ist. Man hätte die realen Straßennamen weglassen können, sie hätte Iranerin statt Türkin sein können, und dass sie mal den Bundesfilmpreis gewonnen hat, wäre wohl besser nicht erwähnt worden. So viele türkische Bundesfilmpreisträgerinnen aus München-Schwabing gibt es nun doch nicht. Den Grundcharakter der Geschichte hätten solche Verfremdungen nicht verändert. Dem Leser ist es doch egal, in welcher Straße die Protagonistin wohnt.

Wie lange sind Sie als Verlagsjurist mit einem Buch beschäftigt?

In schwierigen Fällen ein bis zwei Wochen. Aber ich lese nicht alle Romane unseres Hauses vorab, meist nur, wenn der Autor darauf hinweist, dass es Probleme geben könnte. Viel hängt ja auch von der persönlichen Konstellation der Beteiligten ab. So muss man vorsichtiger sein, wenn der Autor mit Personen, die sich wiedererkennen könnten, zerstritten ist.

Wer trägt das Prozessrisiko, der Autor oder der Verlag?

In unseren Autorenverträge haben wir eine Klausel, die den Autor verpflichtet, den Verlag auf mögliche Probleme mit Persönlichkeitsrechten hinzuweisen. Wenn er das macht, ist es Aufgabe des Verlags, in Absprache mit dem Autor eine vertretbare Lösung zu finden. Falls es trotzdem zu Rechtsstreitigkeiten kommt, trägt der Verlag das Risiko.

Versuchen Sie als Verlagsjurist, alle Risiken auszuschließen?

Nein, ein Buch das völlig geglättet ist, interessiert die Leser ja auch nicht. Deshalb nehmen wir als Verlag gewisse Risiken in Kauf. Angestellte Verlagsjustiziare sind dabei risikofreudiger als externe Anwälte, die selbst das Haftungsrisiko tragen.

Verändert das "Esra"-Urteil nicht doch das Klima in den Verlagen?

Das mag sein, auch weil die Berichterstattung so aufgeregt war. Dabei wird allerdings übersehen, dass das Verfassungsgericht die Rechtslage teilweise sogar liberalisiert hat. Wenn sich jemand in einer Romanfigur einfach nur zu negativ porträtiert sieht, dann kann dies künftig nicht mehr als Verletzung des Persönlichkeitsrechts beanstandet werden. Die Richter haben betont - und das ist neu -, dass es bei Romanfiguren eine Vermutung dafür gibt, dass die Handlung erfunden ist.

Was galt bisher?

Bei Klägern, die nicht Personen der Zeitgeschichte sind, pochten die Gerichte bisher auf das Recht am eigenen Lebensbild.

Damit konnten also selbst wohlwollende Darstellungen unterbunden werden, wenn konkrete Personen sich in einzelnen Romanfiguren wiedererkannten?

Ja. Und jetzt sollen sogar eindeutig negative Darstellungen möglich sein - solange die Intimsphäre der erkennbaren Person respektiert wird und keine ehrenrührigen falschen Tatsachenbehauptungen enthalten sind. Das ist doch ein deutlicher Fortschritt für die Kunstfreiheit.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH

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