Debatte Schule: Bildung ist ein Menschenrecht

Das deutsche Schulsystem grenzt behinderte und sozial benachteiligte Kinder aus. Dies geschieht auch auf Druck einer Mittelschicht, die ihre Bildungsprivilegien verteidigt.

Die jüngste UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet auch Deutschland auf ein inklusives Schulsystem, das alle Kinder in einer Schulform integriert und sie dort gemeinsam fördert. Die Bildungspolitik ist aufgefordert, das System der Kategorisierung und Verteilung von Kindern auf hierarchisch gegliederte Schulformen und Sonderschulen zu beenden und die Rahmenbedingungen für gemeinsames Lernen mit individueller Förderung ohne Diskriminierung auf der Basis von Chancengleichheit zu schaffen. Genau dies forderte schon 1994 die Unesco-Erklärung von Salamanca. Auch in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 ist der Grundgedanke einer Bildung enthalten, die von den Bedürfnissen des Kindes ausgeht und das Recht auf Gleichheit, Menschenwürde und Schutz vor Diskriminierung für alle Kinder einfordert.

Die Bundesregierung hat sowohl die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert als auch die Salamanca-Erklärung mitgetragen. Auch die jüngste Konvention der Vereinten Nationen ist von ihr schon unterschrieben, wenn auch noch nicht ratifiziert worden. Und trotzdem: Von einem politischen Umdenken sind wir weit entfernt.

Wie sonst ist zu erklären, dass trotz der Kenntnis dieser Menschenrechtserklärungen Strukturveränderungen eingeleitet wurden oder geplant werden, die eine Verletzung des Menschenrechts auf Bildung vorsätzlich in Kauf nehmen? Offensichtlich scheint sich bundesweit ein bildungspolitischer Trend durchzusetzen, die strukturellen Defizite mit dem Modell der sogenannten Zweigliedrigkeit lösen zu wollen. Jüngst hat etwa die Wochenzeitung Die Zeit eine Kampagne für dieses Konzept gestartet. Das falsche Etikett kann aber nicht verdecken, dass das Sonderschulsystem neben Gymnasium und Gesamtschule als drittes Glied erhalten bleibt und damit auch bei dieser "Lösung" Kinder in den "Bildungskeller" der Sonderschulen abgeschoben werden dürfen.

Allenthalben werden die Selektionsstrategien verschärft durch Qualitätssicherung und Output-Kontrollen. Leistungsvergleiche in den Grundschulen haben nachweislich zu sehr viel mehr Sonderschulüberweisungen geführt. Weder ist die Qualität des integrativen Gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderungen in den letzten Jahren verbessert noch die Integrationsquote merklich ausgebaut worden, während die Schülerzahlen in den Sonderschulen deutlich angestiegen sind. Alle Bundesländer haben inzwischen ihr Sonderschulsystem zum Förderschulsystem umdeklariert und behaupten damit wider besseres Wissen, behinderten und sozial benachteiligten Kindern würden dort echte Zukunftschancen durch kompensatorische und rehabilitative Maßnahmen eröffnet.

Dass eine Schule für alle ohne Ausgrenzungsstrategien und mit erfolgreichen Lernergebnissen pädagogisch machbar ist, beweisen nicht nur die erfolgreichen Systeme im Ausland. Auch in unserer Republik haben sich Schulen allein oder in Netzwerken den Auftrag gegeben, sich an den Kriterien einer inklusiven Schule zu messen. Vor allem in Grundschulen, Gesamtschulen und im Gemeinsamen Unterricht sind pädagogisch fundierte und wissenschaftlich ausgewertete Modelle entwickelt und Erfahrungen gesammelt worden, die übertragbar wären, wenn die Politik dafür die richtigen Weichen stellte.

Tatsächlich verweist die politische Verweigerung, aus den vielen guten Beispielen und den empirischen Vergleichsstudien die richtigen Schlüsse zu ziehen, auf gesellschaftliche Ursachen, die mit Teilen der heutigen Mittelschichten verbunden sind. Im selektiven Schulsystem haben sich dank der Bildungsexpansion - sprich: Öffnung der Gymnasien und Einrichtung von Gesamtschulen auch für Arbeiterkinder - neue akademisch geprägte Mittelschichten herausgebildet. Über ihren eigenen Aufstieg im Fahrstuhl der Bildungsexpansion haben manche Absolventen mit erfolgreicher gymnasialer Biografie offenbar diejenigen vergessen, die der Fahrstuhl nicht mitgenommen hat.

Wie in bildungssoziologischen Studien nachgewiesen neigen sie dazu, ihren Erfolg sich selbst und der eigenen Leistung zuzuschreiben. In der Logik dieses Denkens werden gesellschaftliche Probleme individualisiert, und es gilt für sie im Umkehrschluss, dass die Bildungsverlierer ihren Misserfolg und ihre geringe Bildung selbst verschuldet haben. Für ihre eigenen Kinder wünschen sich diese "Aufsteiger" das Abitur am Gymnasium, weil es Erfolg und eine soziale Trennung von den bildungsfernen Unterschichten sichert. Dieses Motiv verbindet sie mit Teilen der traditionellen Mittelschicht und des Bildungsbürgertums. In dem Maße, wie auch in die Mittelschichten die Angst vor Prekarisierung eindringt, werden die Bildungsprivilegien, die das Gymnasium für sie garantiert, noch stärker verteidigt.

Schon in den Grundschulen zeigt sich bei Eltern der Mittelschichten bewusstes soziales Segregationsverhalten in der Wahl der Grundschule. Selbst manchen Eltern, die die Integration ihres behinderten Kindes in die Regelschule fordern, ist das Gymnasium sakrosankt. Sie fordern zur Vermeidung der stigmatisierenden Sonderschule zwar ihr Wahlrecht auf den Gemeinsamen Unterricht, aber nicht die grundsätzliche Abschaffung der Sonderschulen und der Gymnasien in der Perspektive einer Schule für alle. Sieht man sich die Integrationskinder genauer an, stellt man fest, dass Kinder aus benachteiligten Familien und aus Migrantenfamilien auch im Gemeinsamen Unterricht unterrepräsentiert sind. Sie haben keine Lobby, und ihre Eltern sind relativ hilflos gegenüber der Schulbürokratie.

Das Schulsystem in einer Demokratie darf sich nicht hergeben für die Realisierung heimlicher Apartheid-Wünsche von Eltern. Die Bildungspolitik ist verpflichtet, bei der Frage, in welche Richtung unser Schulsystem verändert werden soll, das Menschenrecht auf Bildung grundsätzlich höher zu gewichten als den Anspruch von Eltern, die ihren Kindern das Abitur am Gymnasium vererben wollen. Dabei ist von Politikern, denen dieses Denken möglicherweise auch nicht fremd ist oder die auf Wählerstimmen schielen, zu verlangen, dass sie über ihren Schatten springen und das Ganze im Auge haben.

Wenn das selektive Schulsystem die Bildungsarmut von Kindern der unteren sozialen Schichten verfestigt, ihnen und den behinderten Kindern Teilhaberechte verweigert, sie menschlich entwertet und zu den gesellschaftlich Überflüssigen macht, dann geht die Verletzung ihres Menschenrechts auf Bildung uns alle an. Wie können wir sonst glaubwürdig in Menschenrechtsfragen auftreten, wenn wir hierzu schweigen? Unser demokratisches Zusammenleben ist in Frage gestellt - und die langfristigen gesellschaftlichen Schäden und Folgekosten von Desintegration und Exklusion müssen auch von allen getragen werden.

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