Der morbide Reiz von Portbou

Alte Wachtürme, kleine romanische Kapellen und Weinreben am Wegesrand: Auf der Ruta Walter Benjamin vom südfranzösischen Banyuls ins spanische Portbou verbindet sich die Erinnerung an den Philosophen mit landschaftlichen Reizen einer alten Kulturlandschaft. Eine Wanderung in den Pyrenäen

Informationen zu Walter Benjamin in Portbou und eine genaue Wegbeschreibung der etwa fünfstündigen Ruta Walter Benjamin gibt es beim Tourismusbüro von Portbou, Telefon (00 34) 9 72 39 02 84, www.portbou.org. Um seinen Todestag am 26. September findet neben Gedenkveranstaltungen auch eine gemeinsame Wanderung statt. Zu erreichen ist Portbou sowohl von Frankreich als auch von Barcelona aus mit dem Zug, auch nach Banyuls gibt es eine Verbindung. Das Grab Walter Benjamins und das „Passagen“ genannte Denkmal von Dani Karavan sind das ganze Jahr zugänglich, die kleine Ausstellung im ehemaligen Rathaus auf Anfrage. Das einzige ganzjährig geöffnete Hotel ist das Hotel La Masía, Tel. (00 34) 9 72 39 03 72, DZ 80 € Auskünfte bei Katalonien Tourismus, Tel. (0 69) 74 22 48 73, www.catalunyaturisme.com

VON ULRIKE WIEBRECHT

Die Sonne brennt, der Weg ist steinig, rechts und links ist wildes Gestrüpp aus Zistrosen und Rosmarin von der Sonne verdorrt. Ringsum Hänge, die mit Wein bewachsen sind, in der Ferne zeichnen sich die blauen Umrisse der Gipfel der Pyrenäen ab, tief unten liegt die zerklüftete Küste, wo die Pyrenäen ihre Tentakeln ins Mittelmeer strecken. Gerade haben wir das südfranzösische Banyuls-sur-Mer hinter uns gelassen, die quirlige Strandpromenade, Straßencafés und Kioske, die zur Weindegustation einladen. Jetzt steigen wir auf schmalem Pfad zum knapp 600 Meter hohen Coll de Rumpisa hoch, wo bereits Spanien anfängt. Die Albères, das kleine Gebirge, das sich im Grenzgebiet neben dem Meer erhebt, ist ein ideales Wandergebiet. Mal liegen alte Wachtürme, mal kleine romanische Kapellen am Wegesrand, dann wieder geht es an üppigen Weinreben vorbei. Wir gehen auf der Ruta Walter Benjamin. Es ist der Schicksalsweg des Philosophen, der für ihn mit dem Tod endete.

Nicht die Schönheit der Landschaft hat ihn im September 1940 hierher gelockt, sondern die Bedrohung durch die Gestapo. Einmal in Spanien angekommen, wollte er weiter nach Lissabon fahren, um sich dort nach Amerika einzuschiffen. Sein Freund Hans Fittko hatte ihm die Adresse seiner Frau Lisa in Port-Vendres gegeben, die als Fluchthelferin Verfolgte auf der sogenannten Route Lister über die schwer zu kontrollierenden Pyrenäen begleitete. Früh morgens machte man sich auf den Weg. Zusammen mit Henny Gurland und deren Sohn Joseph stieg die kleine Gruppe von Banyuls aus in die Berge. Keine leichte Übung für den früh gealterten Philosophen, der nach Gefangenschaft und französischem Exil erschöpft und herzkrank war. Er musste sich seine Kräfte minutiös einteilen. Für den beschwerlichen Weg, den Wanderer heute in drei Stunden bewältigen, brauchte er fast das Dreifache. „Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen – ich glaube, es waren zehn Minuten – machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus“, erinnert sich Lisa Fittko in ihrem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“. Die ganze Aufmerksamkeit des Intellektuellen galt einer schweren, schwarzen Aktentasche, die offensichtlich Manuskripte enthielt. Sie zu retten schien ihm wichtiger als sein Leben.

Ob er trotzdem Augen für die spröde Schönheit der Landschaft hatte? Für das intensive Blau des Himmels? Auf jeden Fall wird er dort, wo ein Grenzstein die Passhöhe von 538 Metern markiert, erleichtert auf Portbou hinabgeblickt haben. Ein paar Stunden später – heute führt ein breiter Forstweg in etwa zwei Stunden zwischen Steineichen und Pinien hinunter – war er dann am Ziel. Doch dort wurden alle Hoffnungen gleich wieder zunichte gemacht: Die französische Regierung hatte sich neuerdings verpflichtet, keine Ausreisevisa mehr für Emigranten auszustellen. Ohne die musste Benjamin aber befürchten, von den Spaniern gleich an die Gestapo ausgeliefert zu werden. „In der ausweglosen Lage habe ich keine andere Wahl, als dieser ein Ende zu machen“, heißt es in seinem Abschiedsbrief an Adorno. „In einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, in dem mich niemand kennt, wird sich mein Leben vollenden.“ Wahrscheinlich starb er in der Nacht vom 26. auf den 29. September 1940 im Hostal de Francia an einer Überdosis Morphium. Später bekam er ein Grab auf dem kleinen Friedhof am südlichen Ortsende von Portbou. Gleich daneben hat ihm der israelische Künstler Dani Karavan eine „Passagen“ genannte begehbare Skulptur zum Denkmal gesetzt: einen Tunnel aus rostigem Stahl, in dem eine Treppe zum Wasser hinunterführt.

Durch eine von Steinschlag lädierte Glasscheibe fällt der Blick auf das Spiel der Wellen, die Berge, den Horizont – und das ins Glas eingravierte Benjamin-Zitat „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten: Dem Gedächtnis der Namenlosen ist diese historische Konstruktion geweiht.“

Schon seit Jahren gibt es in Portbou das Projekt einer Walter-Benjamin-Stiftung mit Studienzentrum, für das der britische Architekt Norman Foster bis zu Benjamins 70. Todestag in drei Jahren das frühere Rathaus umbauen soll. Doch bislang ist dabei nicht mehr herausgekommen als eine bescheidene Dauerausstellung mit Fotos. Noch fehlen dem Ort die erforderlichen Mittel, doch von den Plänen lässt er nicht ab. Nicht dass sich hier alle brennend für die Schriften des jüdischen Kunsttheoretikers interessieren würden. Aber die Tragik seiner Gestalt passt zur mehr oder weniger verzweifelten Lage des Grenzorts. Im Gegensatz zu den Badeorten der südlichen Costa Brava ist hier weder mondäner Lifestyle noch irgendein zeitgemäßes Tourismusmarketing eingezogen. Zwar gibt es einige hübsche Buchten inmitten der rauen Felslandschaft – in den letzten Jahren ist sogar ein Yachthafen entstanden –, doch finden meist nur anspruchslose Tagesausflügler aus Frankreich den Weg hierher, um Spirituosen zu kaufen und auf der Terrasse des Restaurants España Paella zu essen.

Wahrzeichen des Orts ist der überdimensionierte Umsteigebahnhof, wo die Reisenden traditionell den Zug wechseln müssen, weil die Gleise in Frankreich und Spanien unterschiedliche Spurbreiten haben. Noch immer bildet das Quietschen beim Rangieren der Züge die Hintergrundmusik. Doch werden inzwischen immer mehr Regionalzugverbindungen eingestellt, und irgendwann wird wohl nur noch der Hochgeschwindigkeitszug nach Madrid durchrauschen. Im Zeichen von Maastricht hat Portbou auch seine Bedeutung als Zollstation verloren. Viele sind arbeitslos geworden und anderswohin gegangen, jetzt prägen alte Männer mit Gehstöcken das Bild. So manches Restaurant ist verrammelt, von einst siebzehn sind nur noch vier Hotels geblieben, von den Fassaden blättert der Putz.

Da erkennt man in Walter Benjamin eine Chance: „Er passt zur morbiden Atmosphäre des Orts“, meint Joan Gubert, der im Gemeinderat für Kultur zuständig ist. „Auch deshalb, weil sich hier seit seinem Tod nicht viel verändert hat. Zumindest in städtebaulicher Hinsicht ist Portbou im Franquismus der Nachkriegszeit stehen geblieben.“ Normale Badeurlauber kann man damit nicht locken. Wohl aber Japaner, Amerikaner und andere Benjamin-Interessenten, die zum Monument von Dani Karavan pilgern. Stück für Stück wird der deutsche Philosoph zu einer Art Markenzeichen des Grenzorts. Die Dekadenz des Ortes wird Kult. Und zu Benjamins Todestag Ende September kommen reichlich Besucher.

Mit dazu gehört dann die Wanderung auf dem Schicksalsweg von Banyuls nach Portbou. Der entpuppte sich – abgesehen von seinem Symbolgehalt – auch als landschaftlich reizvoll. Damit ihn auch Nichteingeweihte finden, wurde er jetzt in Kooperation mit den Gemeinden des Nachbarlands hergerichtet und ausgeschildert. Der größte, schwierigste Abschnitt von Banyuls bis zum Coll de Rumpisa ist bereits fertig, am spanischen Teil wird gebaut.

Ein besonderes Erlebnis ist die Wanderung allemal. Auch deshalb, weil die homogene Weinlandschaft zeigt, dass lange vor dem vereinten Europa der Nordosten Spaniens und der Süden Frankreichs eine einzige blühende Kulturlandschaft war. Die Grenzen sind immer nur politische Festlegungen. Für heutige Wanderer ist es leicht, sie zu überschreiten. Und die unbeschwerte Leichtigkeit des Laufens hat fast etwas Frivoles. Walter Benjamin konnte die Grenzen schließlich nur im Geist und mit den Worten seines „Passagen“-Werks passieren.