Schöner alt werden

Das allerletzte Projekt, mit dem Achtundsechziger etwas zum Besseren wenden? Selbstbewusst zu GreisInnen werden

VON DIRK KNIPPHALS

Für Achtundsechziger muss es eine interessante Erfahrung sein, tatsächlich alt zu werden. Für alt erklärt werden sie schließlich schon lange. Altachtundsechziger? Dieser Begriff fand sich bereits vor zwei Jahrzehnten in dieser Zeitung, gemünzt übrigens auf den damals gerade einmal 43-jährigen Mathias Greffrath. Nach all den damit verbundenen und oft ziemlich hämischen Zuschreibungen muss es fast schon etwas Nachholendes haben, wenn nun Biologie und Rentenordnung tatsächlich die betreffenden Jahrgänge erreichen: Jetzt sind die Achtundsechziger also wirklich so alt, wie sie schon lange gemacht wurden.

Zu den Klischees über diese Gruppe gehört allerdings, dass sie die Erscheinungen des Alterns am liebsten ignoriert. Graue Haare? Bauchansatz? Egal. Irgendeinen Anlass finden sie, das rebellische Feuer der Jugend in sich zu entfachen, zur Not bei Rotwein. Diese Figur des in Erinnerungen schwelgenden, ewig Sprüche klopfenden Politrebellen ist eherner Teil der Erzählungen von Massenmedien über diese Generation; es gibt da nicht nur diesen kiffenden Taxifahrervater des Kommissars im „Tatort“ aus Münster. Mittlerweile gibt es aber auch deutliche Signale, dass auch dieser Alterskohorte ihr Lebensalter bewusst wurde – in Wirklichkeit möchte wohl niemand gern so sein wie die Abziehbilder, die die Medien von seiner Generation zeichnen. Die vierzig Jahre nach Achtundsechzig kann eben niemand mehr ignorieren. Noch denkt man zwar nicht zuerst an Achtundsechziger, wenn man übers Alter nachdenkt. Prägende Bilder senden noch diese erstaunlich hartnäckigen Achtzigjährigen wie Günter Grass und Martin Walser, bald auch Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger. Aber das sind Solitäre. In generationeller Breite wird das Altersproblem erst von den Achtundsechzigern debattiert werden.

In Selbstverständigungsdebatten waren sie schließlich immer groß, und inzwischen fließt schon in die Fragestellung ein, wie die Lebensphase des Alters denn nun bei ihnen aussehen kann oder soll. Toskanafraktion, bis der Arzt kommt? Politaktivismus, solange man ein Anti-G-8-Plakat halten kann; dann Alten-WG? Oder doch lieber ruhig in seiner Wohnküche Bücher schreiben? Wer sich erinnert, wie ausgiebig vor zehn Jahren, als viele Achtundsechziger die Früchte ihres Engagements ernteten, über die Bedingungen eines guten Lebens nachgedacht wurde, erahnt: Da kommt bald einiges an öffentlicher Reflexionsarbeit über das Altern auf uns zu.

Und es ist ja auch längst schon da. Vor allem für weibliche Intellektuelle dieser Generation scheint das Thema des Alterns Herausforderungen bereit zu halten, denen sie sich nur mit Hilfe eingeübter Anstrengungen stellen können: mit denen nach geistiger Durchdringung. Man kann derzeit also einen hübschen Boom an Büchern registrieren, in denen Autorinnen um die sechzig über das Altwerden nachdenken. Mit Silvia Bovenschens Reflexionen „Älter werden“ hat dieses Genre bereits einen Überraschungsbestseller produziert.

Nicht alles in diesen Büchern überrascht wirklich. Es geht um die Abgrenzung gegen einen sexualisierenden Blick, der jugendliche Makellosigkeit als begehrenswerte Norm festlegt; darum, sich mit sich selbst und seinem in die Jahre gekommenen Körper anzufreunden. Und es geht um eine gedankliche Neuorientierung, welche Themen nun anstehen und welche Ansprüche ans Leben man klugerweise hinter sich lässt. Über viele diese Felder kann man schon seit längerem in den intelligenteren Frauenzeitschriften lesen – nur nicht mit einem so dringlichen, bohrenden oder auch selbstironischen Tonfall wie in diesen Büchern.

War auch nicht anders zu erwarten: Mit den Achtundsechzigerkadern kommt Verschärfung in die Selbstverständigungsdiskurse übers Altern. Dabei muss man sich, ehrlich gesagt, immer noch leicht wundern, dass bei alten Menschen überhaupt diskursive Neuorientierungen ansteht. Bisher dachte man eher, sie erfüllten schlicht ihre Rollen.

Wie kämpferisch Achtundsechziger das Altern angehen können, wurde mir seltsamerweise klar, als eine Vertreterin dieser Kader neulich über die Telekom schimpfte; es war ihr stundenlang nicht möglich gewesen, bei einer Servicehotline durchzukommen. Unter vernünftigen Menschen kann man sich ja auch wirklich schnell darauf einigen, dass die neue Servicewelt ihre Tücken hat. Nur verband diese Frau ihre Klage mit einem Lobgesang auf die alte Bundespost – als habe die nie Anlass zum Ärger gegeben.

Offenbar sind also auch erprobte Lebensrebellen nicht vor der typischen Altersgefahr gefeit, die Welt ihrer jungen Jahre zu verklären. Immerhin mündete der große Klagegesang der Achtundsechzigerin in der so freimütigen wie entwaffnenden Feststellung, dass sie am Schluss den Hörer weggeworfen, auf dem Sofa gesessen und vor Wut intensiv geweint habe. Wieder eine Verschärfung: Diese Generation wird sich auch unter den unbequemen Bedingungen des Alters nichts gefallen lassen. Altersdiskriminierung? Mit denen doch nicht! Als neulich Berichte über schlimme Zustände in Pflegeheimen aufkamen, leuchtete diese kämpferische Haltung auf wie ein Hoffnungsschimmer.

Ist also das Projekt „Emanzipiert altern“ das letzte dieser Generation? Wahrscheinlich wird man nicht damit durchkommen, es so zu rubrizieren. Aber eigentlich wäre ohne die bewusste Hinwendung zum Alter das Lebensprojekt der Achtundsechziger gar nicht vollständig beschreibbar. Erst haben sie als junge Menschen die universitäre und familiäre Lebenswelt so sehr unter Rechtfertigungsdruck gesetzt, dass alle angeblichen Selbstverständlichkeiten erodierten. Dann haben sie, als es ans Berufsleben ging, den langen Marsch durch die Institutionen erfunden, bis die Formel von der Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft Evidenz erhalten hatte. Und nun muss also das Alter umgepflügt und neu definiert werden. Immer haben sie die Probleme ihrer jeweiligen Lebensphase unbedingt wichtig genommen. Wobei sie mit ihren erhöhten Ansprüchen an Emanzipation von den überkommenen Bildern und Vorbildern des Alters sogar mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens rechnen können. Den Wunsch nach einer angenehmen Altersphase hegt die ganze Gesellschaft – in Frage steht nur die Finanzierung. Altersruhesitze auf Mallorca oder nachgeholte Kurse in Kunstgeschichte spielen in vielen Lebensträumen eine Rolle. Und so eine Prise Achtundsechzig, werden selbst frühere Gegner der Studentenrevolte überlegen, macht sich im Alter gar nicht schlecht!

Als die Demografiedebatte übers Altwerden der Gesellschaft tobte, hat die Autorin Christiane Graefe für die Zeit Achtundsechziger nach ihren Vorstellungen befragt. Was herauskam, las sich, als könne es das Repertoire an Möglichkeiten für die Altersphase erweitern. Gemeinsam ein Häuschen auf dem Land haben, wenn auch ohne den alten WG-Terror. Möglicherweise zusammen ein Auto nutzen, obendrein Bildungsreisen, Lektüreprojekte, vielleicht noch vorsichtige Partnerschaftsexperimente.

Ein wenig hat man das Gefühl, als seien gerade Achtundsechziger ganz gut aufs Alter vorbereitet. Erwerbsarbeit stand eigentlich sowieso nicht im Zentrum ihrer Lebensentwürfe, und über die Kleinfamilie wollten sie auch schon immer hinaus. Jedenfalls mag ’68 selbst etwas vom stürmenden und drängenden sowie sexuell überhitzten Friedrich Schiller gehabt haben. Die Achtundsechzigervorstellungen vom Alter haben dagegen etwas vom abgeklärten alten Goethe. Wenn man böse ist, auch etwas von einer Pfarrhausidylle. Man wird sehen.

So ist der vierzigste Jahrestag von ’68 Anlass nicht nur zu Rückblick und Aufarbeitung, sondern auch, nach vorn zu gucken; das Altwerden der Achtundsechziger ist nicht nur für sie selbst interessant, sondern auch für nachgeborene Generationen. Auch wenn man teilweise noch verstrickt war im Clinch um Aufmerksamkeit und sonstige Pfründen – die Jahrgänge der nach 1960 Geborenen konnten das, was gut war an ’68, pragmatisch in Alltägliches übersetzen: Kinder aufziehen, die sich von „Großen“ nicht einschüchtern lassen; Beziehungen führen, die ohne Aufopferung funktionieren; auf einverstandenere Art Geld verdienen; ein ausgefülltes Leben führen. Alles praktizierte Emanzipation!

Niemand kann etwas dagegen haben, wenn nun die Achtundsechziger beim Unternehmen, auch das Altwerden fundamentalliberal zu gestalten, vorangehen. Dann ließe sich das Lebensprojekt als solches womöglich so erweitern, dass man von der Geburt bis zum Tod alle Aspekte des Lebens, des Menschseins möglichst selbst gewählt erfahren kann. Eventuell ist das aber auch zu viel verlangt, und man entkommt den traurigen Auswirkungen des Altwerdens einfach nicht. Wir sind gespannt.

DIRK KNIPPHALS, Jahrgang 1963, taz-Literaturredakteur, will im Alter viele Theater & Kinos in der Nähe haben