„Ich war die Fratze auf dem Polizeibild“

In ihrer Jugend war sie trotzkistische Hausbesetzerin. Heute sucht sie die sozialen Realitäten im internationalen Theater. Die Wiener Dramaturgin Stefanie Carp über Marthaler, Castorf, Berlin, 1968, die RAF damals und Christian Klar heute

STEFANIE CARP Geboren: In Hamburg. Beruf: Literaturwissenschaftlerin. Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, dem größten Theaterfestival im deutschsprachigen Raum. Das internationale Programm läuft vom 9. Mai bis 15.Juni (www.festwochen.at). Zürich: Ab 2000 leitete Carp mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock das Schauspielhaus Zürich. Mehrfach „Theater des Jahres“, aber auf Kriegsfuß mit der Zürcher Stadtpolitik. 2005 war Schluss. Es folgte eine kurze Phase in Berlin als Chefdramaturgin bei Frank Castorf an der Volksbühne. Zum taz-Gespräch traf Stefanie Carp taz-Redakteur Andreas Fanizadeh in Wien.

INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH

taz: Frau Carp, woran erkennt man eine gute Dramaturgin?

Stefanie Carp: Im Zweifelsfall an einem interessanten Spielplan.

Was ist die klassische Aufgabe einer Dramaturgin?

Es gibt im Grunde zwei Aufgaben: Die eine besteht darin, den Spielplan eines Hauses zu konzipieren und teilweise auch ins Werk zu setzen.

Das macht nicht der Intendant?

Das kann ja gar nicht einer alleine machen. Dramaturgen müssen viel herumfahren, neue Regisseure, Schauspieler und Stoffe entdecken.

Eine relativ umfangreiche Tätigkeit.

Ja, dann kommt noch der zweite Bereich hinzu. Das ist die sogenannte Produktionsdramaturgie, einen Regisseur beim Entstehen einer Inszenierung begleiten. Die Textgrundlage für ein Stück erstellen, Material heranschaffen, das ist je nach Thema und Regisseur sehr unterschiedlich.

Wie lernt man so etwas?

Indem man es tut. Viel hängt von den Regisseuren ab. Man kann nur so gut oder schlecht sein, wie man sich mit einem Regisseur versteht. Also, wenn ein Regisseur sagt: Ich hasse Dramaturgen, rutsch mir den Buckel runter, dann ist es schwierig.

Das gibt es auch?

Öfters als man glaubt. Dramaturgen gelten als Intellektuelle und das kann im Theater schnell ein Schimpfwort sein, auch bei den Schauspielern. Der Dramaturg ist der klassische König ohne Land. Wenn ihm nicht zugehört wird, kann er auch nicht wirksam sein.

Da drängt sich die Frage auf: Ist denn die bestehende Hierarchie im Theater überhaupt sinnvoll, mit dem allgewaltigen Regisseur und dem Stab kaum genannter Zuarbeiter?

Der Regisseur ist nun mal der Künstler. Das hat meiner Meinung nach nichts mit Hierarchie zu tun. Er muss für alles verantwortlich zeichnen.

Aber ist das in Wirklichkeit nicht ein Künstlerteam aus Textern, Musikern, Bühnenbildnern, Schauspielern?

Das kommt wirklich darauf an, wie ein Regisseur arbeitet. Es gibt viele die wollen nicht im Team arbeiten. Künstler sind oft einzelgängerische Wesen. Die wichtigste Beziehung für einen Regisseur ist die zu seinen Schauspielern. Ob eine Inszenierung gut oder schlecht wird, daran haben die Schauspieler entscheidenden Anteil.

Nach ihrer Hamburger Zeit haben Sie mit Anna Viebrock und Christoph Marthaler das Züricher Schauspielhaus von 2000 bis 2005 geleitet. Was bedeutet Ihnen die Zusammenarbeit mit Marthaler?

Ich habe eine schöne und sehr lange anhaltende Beziehung zu Christoph Marthaler, für den ich als Dramaturgin beziehungsweise als Produktionsdramaturgin gearbeitet habe und teilweise noch arbeite.

Trauern Sie der Zürcher Zeit noch nach?

Es ist schade, dass wir in Zürich zu früh aufgehört haben. Wir hätten noch zwei Jahre weitermachen sollen. Über die Querelen mit der Züricher Stadtpolitik ist aber genug gesprochen worden, das ist vorbei.

Welche Ihrer Theaterarbeiten sind Ihnen in besonderer Erinnerung?

Das sind schon die Arbeiten mit Christoph Marthaler und Anna Viebrock. Projekte wie „Stunde Null“, „Spezialisten“ oder „Faust“, alle in Hamburg. Dann in Zürich: „Hotel Angst“, „Dantons Tod“, „Groundings“, „Die schöne Müllerin“ und schließlich „Schutz vor der Zukunft“ in Wien.

Wo war das?

Das war in der Psychiatrie, in einem Saal des Otto-Wagner-Spitals auf der Baumgartner Höhe. An dem Abend ging es um das dort betriebene Euthanasie-Programm der Nazis. In dieser Klinik wurden hunderte von kleinen Kindern von Naziärzten gefoltert und ermordet. Einer der damals hauptverantwortlichen Ärzte durfte nach 1945 in Wien Karriere machen und ist erst vor kurzem in hohem Alter friedlich verschieden.

Sie waren nach Zürich kurz in Wien und dann für eine Zwischenzeit an Frank Castorfs Volksbühne in Berlin, bevor es wieder nach Wien ging.

Berlin war nicht als Zwischenstation gedacht.

Es wurden zwei Spielzeiten, warum sind Sie dort nicht länger geblieben?

Ich bin nach Wien abgeworben worden.

Was sagen Sie zu der Prügel, die Castorf zurzeit für sein Theater an der Volksbühne einstecken muss?

Die finde ich nicht gerechtfertigt. Ein Machtkampf in der Presse. Die Volksbühne macht bessere und schlechtere Produktionen wie jedes andere Theater auch. Und man kann nicht aus der Tatsache, dass sie mal das Lieblingstheater des einen oder anderen Kritikers waren, Frank Castorf für die Enttäuschung darüber verantwortlich machen, dass wir alle älter werden.

Haben Sie seit Ihrem Weggang neuere Produktionen dort gesehen?

Ja, zum Beispiel „Emil und die Detektive“. Eine wunderbare Inszenierung, bei der Frank Castorf mit mehreren Kindern auf der Bühne arbeitete.

Von den Streitigkeiten aus Berlin spürt man wahrscheinlich in Wien jetzt wenig?

Natürlich nicht: Berlin mit seinen Freiheiten habe ich sehr genossen. Dort gibt es zum Beispiel keine so omnipräsente bürgerliche Elite wie in Hamburg, Zürich oder Wien.

Finden Sie wirklich?

Berlin ist eine viel weniger bürgerliche Stadt. Es gibt keine Stadt in Europa, deren Kulturöffentlichkeit so durchlässig und so jung ist. Berlin ist eine Stadt, die sich gerade neu erfindet. Der Nachteil an Berlin ist die extreme Konkurrenzsituation: viele Kulturschaffende, wenige Jobs.

Berlin empfanden Sie also auch als sehr hart?

Sehr aggressiv und bitter. In Wien ist man dafür mit sehr starken bürgerlichen Ansprüchen ans Theater konfrontiert, auf großes repräsentatives Theater.

Ist das für Sie schwierig?

Nicht ganz einfach. Bei den Wiener Festwochen muss ich einen Spagat hinkriegen zwischen Innovation und diesen Ansprüchen. Zum Glück gibt es auch Aufführungen, die beide Kriterien erfüllen.

Das Theater in Wien ist allgemein etwas traditioneller?

Auf den großen Bühnen gibt es den direkten Spielstil, den man in Hamburg oder Berlin pflegt, fast nicht.

Sie haben für die Festwochen sehr viele Theaterproduktionen im Ausland gesichtet, um sie nach Wien einzuladen.

Wir haben Inszenierungen aus Teheran, Tokio, Brasilien, Südafrika, USA und Europa eingeladen, die ich zuvor in den jeweiligen Ländern sehen konnte.

Die haben Sie alle selber vor Ort angeschaut?

Ja sicher. Ich lade nur ein, was ich persönlich gesehen habe.

Ganz schön dichter Flugplan?

Teilweise musste ich fast täglich woanders hinfliegen.

Vor diesem globalen Maßstab, Johannesburg, Teheran, Tokio oder Buenos Aires: Welchen internationalen Tendenzen im zeitgenössischen Theater spüren Sie dabei nach?

Ich kann sagen, nach was ich suche. Weil: Ein Gemeinsames ist bei den verschiedenen Kultur- und Theatertraditionen oft schwer auszumachen. Wenn ich Theater in Südafrika anschaue, suche ich in den seltensten Fällen dort nach einer südafrikanischen Inszenierung der Minna von Barnhelm. Ich suche nach Produktionen, bei denen man etwas über die sozialen Realitäten der Länder erfährt, die nicht folkloristisch sind und die ein europäisches Publikum verstehen kann.

Ist das Theater heute noch der Ort, um Gesellschaftskritik zu üben?

Das Theater kann gar nicht anders, als kritisch zu sein.

Warum?

Es ist ein öffentlicher Ort der Auseinandersetzung. Es erzählt immer, wer wir Menschen gerade sind.

Man kann sich ja aber auch einfach nur unterhalten?

Ja, kann man. Das eine schließt das andere nicht aus.

Haben Sie eigentlich einen Fernseher?

Ja, aber ich schaue kaum. Ich komme nicht dazu.

Der Radikalitätsbegriff ändert sich im Laufe der Jahre. Sie waren als junge Frau in den 70er-Jahren in einer trotzkistischen Gruppe. Theater hat Sie damals schon interessiert?

Ich hab in der Schule in einer Theatergruppe gespielt, aber natürlich ohne Berufsziel. So etwas wie Karriere hat nicht zum Selbstbild gehört. Ich wollte intellektuell sein, möglichst viel lesen und bei einer Gesellschaftsveränderung mitwirken.

Es heißt, Sie haben auch an der Hausbesetzung in der Hamburger Eckhofstraße mitgemacht. Daran waren Anfang der 70er auch Personen beteiligt, die sich wie Karl-Heinz Dellwo später dem bewaffneten Untergrund anschlossen.

Ich war damals 16, 17 Jahre alt. Die Protestbewegung war abgeebbt und in den Schulen hatte man teilweise noch so Nazilehrer. Über die Schulbewegung stieß ich auf die Trotzkisten, die Gruppe Internationaler Marxisten, GIM, denen ich mich anschloss.

Die Trotzkisten haben damals auch Häuser besetzt?

Ja sicher, offensichtlich im Bündnis mit anderen Isten. Die Gruppe Internationaler Marxisten hat mir gefallen, weil sie einen Sozialismus ohne Gulag wollte, den Stalinismus ablehnte und zwischen Kommunismus und Stalinismus differenzierte. Außerdem waren da die interessanten Jungs. Man hat ja immer sehr gemischte Motive.

Und die Hausbesetzung?

Wir haben die aus einer Gruppe heraus organisiert, der sich andere anschlossen. Das war ein wichtiges Ereignis für Hamburg, weil es vorher noch nicht so viele Hausbesetzungen gab. Die Besetzung richtete sich gegen die Gentrifizierung der Stadt. Ein paar ältere Genossen hatten sich das ausgedacht und mich gefragt, ob ich mitmache. Das war natürlich super spannend. Es wurden spanische Reiter gebaut und wir sind in das Haus eingedrungen.

Wie viele machten diese Aktion?

Am Anfang waren wir vielleicht zu zehnt und dann wurden es immer mehr. Zur Verstärkung wurden sogenannte Politrocker geholt, was mir unheimlich war. Die kamen aus Bremen, mit ihren Motorrädern. Es sah so aus, als würden die sich auf einen längeren Kampf einstellen. Sie stellten überall Schüsseln mit Bohnen hin.

Bohnen?

Ja, das hatte mich auch gewundert. Das Haus wurde irgendwann von der Polizei belagert und dann haben die angefangen aus dem Haus mit Steinen auf die Polizisten zu werfen, aber alles noch relativ harmlos. Von Seiten der Polizei wurden Ultimaten gestellt und eines Nachts das Haus geräumt. Ich wurde auch einmal verhaftet, als ich zum Haus ging. Ich spazierte mit Motorradhelm, vermummt und in schwarzen Klamotten über die Straße.

Gar nicht auffällig.

Blöder ging’s kaum. Ich blieb dann über Nacht im Gefängnis. Weil ich noch nicht volljährig war, kam ich dann wieder raus. Bei der Polizei sollte ich fotografiert werden. Ein Genosse hatte mir gesagt, ich müsste beim Fotografieren das Gesicht verzerren, damit ich später nicht auf Fahndungsfotos erkannt werden könnte. Wir fühlten uns damals alle am Rande der Legalität. Diese Aufnahmen wurden dann meinen Eltern vorgelegt, die bestätigen mussten, dass ich die Fratze auf den Polizeibildern sei. Ganz so ernst hat man das damals aber auch alles nicht genommen.

Was meinen Sie damit?

Heute wird alles zu 68 gerechnet. Die Proteste in den frühen 60er-Jahren genauso wie die Proteste Ende der 70er. Was verbindet man eigentlich mit „68“? Manche verbinden damit nicht mehr als eine Generation, die ihnen die Jobs weggeklaut hätte. Ich zum Beispiel kann biografisch gar keine 68erin mehr sein. Aber natürlich standen unserer Zwischengeneration die 68er nahe. Wir haben sie bewundert, wollten auch so mutig sein und so fröhliche Forderungen stellen.

In den 70ern gab es ja dann diese sehr rigide Polarisierung. Sie haben einer linksradikalen Organisation angehört, aber dann doch einen anderen Weg gewählt. Wie kam das?

Ich hatte schon während meiner Zeit in der GIM diese manchmal dogmatische Enge kennengelernt. Ich hab mich immer für Theater interessiert, und das wurde von der politischen Linken doch eher als zu bürgerlich betrachtet. Dieses Reglementieren und auch die Demonstrationen, auf denen man gemeinsam Lieder singt, hab ich mitgemacht, aber nie gemocht.

Skepsis gegenüber Massenritualen?

Ja. Die stark polarisierende Frage war aber letztlich damals: Geht man in den Untergrund oder nicht? Ich bin diesen Weg nicht gegangen, die GIM hat dies insgesamt nicht mitgemacht. Aber ich war auch dagegen, die Genossen pauschal zu verurteilen, die das taten. Darum hab ich auch die GIM verlassen.

Die GIM hatte sich nachdrücklich vom bewaffneten Kampf distanziert?

Ja. Das fand ich zu dem damaligen Zeitpunkt nicht richtig. Das hat letztlich die Leute, die RAF weiter isoliert und aus der politischen Diskussion geworfen und allgemein geschadet.

Heute ist es selbstverständlich, sich von der Geschichte der bewaffneten Linken zu distanzieren?

Zu dem damaligen Zeitpunkt fühlte man sich nicht so fern, auch wenn man es für falsch hielt. Die andere Seite war ja auch nicht ohne und hat alle möglichen Leute aufgegriffen und unter Terrorismusverdacht gestellt.

Was sagen Sie zu den immer wieder aufflackernden Diskussionen um RAF-Häftling Christian Klar und sein mögliches Praktikum bei Claus Peymann am Berliner Ensemble?

Es gab einen Aufschrei, als Christian Klar diese Grußbotschaft an die Rosa-Luxemburg-Konfe- renz schickte und sich kritisch über den Kapitalismus äußerte. Dabei hat er kaum etwas anderes gesagt als Naomi Klein oder Slavoj Žižek. Er hat sich leider nur sehr altmodisch ausgedrückt.

Die haben aber auch nicht geschossen…

Aber soll er jetzt wegen einiger öffentlich geäußerter Begriffe im Gefängnis bleiben?