Wir alle waren Tunix!
Mit Regenbogenschal

Ein Kongress, geboren aus den Gedanken und Gefühlen einer jungen Generation. Sie kamen nach Berlin, sahen, was kommen sollte – und siegten

Helmut Höge, 60, war damals Knecht bei einem SPD-Bauern in der Wesermarsch und ist heute Journalist, Autor, Blogger und Aushilfshausmeister bei der taz.

Der Tunixkongress fand im Winter statt, die anschließende Anti-BRD-Demo formierte sich jedoch wundersamerweise unter einem Regenbogen, weswegen mir später eine Teilnehmerin zur Erinnerung einen Schal in Regenbogenfarben strickte. Auf Einladung der späteren ersten taz-Paris-Korrespondentin Dorothee Münk saß ich im Arbeitskreis tageszeitung, wo ich mich allerdings gegen die taz-Gründung aussprach, weil mit einem solchen Zentralmedium alle linken Stadtzeitungen zum Untergang verurteilt seien – was dann ja auch eintrat. Persönlich schaffte ich jedoch wenig später über die taz-Kulturredaktion den Sprung in die grün-alternative „Kinder-FAZ“, wie Hermann Gremliza die „größte Schülerzeitung der Welt“ (taz-Eigenwerbung) seitdem nennt.

Ein warmer Ton

Rudi Wedekind, 58, war zur Tunixzeit Referendar und im Hamburger Ableger des Sozialistischen Büros Offenbach aktiv. Heute ist er Lehrer und taz-Genosse.

Nachdem mit der ersten Brokdorf-Demo im Oktober 1976 und weiteren Großdemos gegen Atomanlagen in Grohnde, Brokdorf und Gorleben Anfang 1977 so eine Art Hoffnung in mir aufkeimte, dass sich die Linke (und ich mich mit ihr) von der Bevormundung durch KB, DKP, KBW und wie sie alle hießen befreien konnte, folgte dann im Herbst 1977 der große Katzenjammer. Welcher Balsam für die Seele, dass es im fernen Frankfurt offenbar lustigere und weniger verbissene Leute gab als in Hamburg, was schon die Zeitschrift Pflasterstrand ahnen ließ und was der Tunixkongress einlösen sollte. Schon die Eröffnungsrede berührte mich sehr, weil wir darin mit den drei Bremer Stadtmusikanten verglichen wurden: Was Besseres als den Tod finden wir überall. Das war plötzlich ein poetischer, ein warmer Ton, dessen bisheriges Fehlen in der linken Kultur der Zeit mir wohl erst richtig bei diesem Kongress schmerzlich bewusst wurde.

Zurechtlieben

Juppy (59) war Mitbegründer des Berliner Kulturzentrums UFA-Fabrik. Er lebt, arbeitet und liebt noch immer dort.

Das waren damals alles Leute, die wussten, wie man neue Wege geht – es war eine unglaubliche Solidarität. Wir haben uns gedacht: Jetzt zeigen wir mal die positive Seite, zeigen, dass es auch anders geht: Wir zeigen, was wir wirklich draufhaben. Da ging es ja auch um ein anderes Menschenbild – jeder Mensch braucht jemanden, der einfach an ihn glaubt, wenigstens einen. Und die Idee darunter war auch: Wir lieben uns die Menschen so zurecht, wie wir sie gerne hätten.

Weg mit der Decke

Hans-Christian Ströbele (68) war zur Zeit des Tunixkongresses im Sozialistischen Anwaltskollektiv tätig und ist heute stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen.

Auf diesem Kongress wurde zum ersten Mal die Decke gelüftet, die sich die Leute, bedingt durch den Herbst 77, über den Kopf gezogen hatten. Diese Köpfe waren nun wieder zu sehen: Wir sind doch da. Wir zeigen uns wieder. Und wir sind so viele! Neue Projekte, so wie die Vorstellung einer bundesweiten linksradikalen Tageszeitung, stießen auf breite Zustimmung. Ich weiß noch, dass das Audimax der TU richtig voll war und alle begeistert klatschten. Ich war ja damals schon wesentlich älter als der Durchschnitt der Teilnehmer, und mir hat das einfach Mut gemacht: Da waren so viele junge Menschen, die etwas wollten – auch wenn es sich nicht um eine neue APO gehandelt hat.

Glut und Asche

Lutz Schulenburg, 51, war Mitbegründer des Hamburger Verlags Edition Nautilus und ist noch immer dessen Verleger.

Die Erinnerung ist verblasst. Es bleiben Details, wie hart abgezogene Schwarz-Weiß-Fotos. Auf einem Transparent war zu lesen: „Holen wir die Kulturrevolution wieder aus den Gefrierfächern unseres Gehirns!“ Oder: „Wir wollen ALLES und wir wollen es JETZT“. Nüchtern sagte einer zu mir: „Hier siehst du Glut und Asche.“ Revolte und Müsli-Gemütlichkeit, dicht beieinander. Tunix – ein Szenekarneval, ja sicher, aber noch getragen von der Hoffnung, dem bitteren Preis der Anpassung zu entrinnen, nachdem die Revolutionserwartung unter Schwindsucht litt. Den Bruch mit der Gesellschaft zu erhalten, subjektiv stark und kollektiv handlungsfähig zu bleiben – um auch in der falschen Gesellschaft ein würdiges Leben führen zu können. Das hieß: dem Todeskult des „Modells Deutschland“ mit Stammheim und seiner gut geölten kapitalistischen Maschine zu widerstehen; hieß auch, aus der leerlaufenden linken Militanz mit ihren autoritären Sackgassen und ihrer Bombenlogik herauszukommen. Das 68 begonnene kollektive Abenteuer zu verteidigen. Der Auftritt von Peter Glotz, diesem aalglatten sozialdemokratischen Konterrevolutionär, ließ nichts Gutes ahnen (von heute aus gesehen, führt ein Weg von Stammheim ins Kriegslager an den Hindukusch). Meine Genossen und ich fuhren etwas bedrückt nach Hamburg zurück. Während der sonst recht einsilbigen Rückfahrt bemerkte einer ins dösige Schweigen, auch die Lektüre von Lenins „Was tun?“ hätte ihn einst nur ratlos gemacht.

Ich sag das mal so

Stephan Wackwitz, 56, war damals in der DKP-nahen Studentengruppe MSB Spartakus organisiert. Er lebt heute als Schriftsteller in New York.

Tunix, das waren für mich damals mir persönlich megaunsympathische „Orte wilden Denkens“ und eines Marxisten unwürdiger Wirrnisse des Auftretens, der Verwahrlosung und des „Ich sag das jetzt mal so“. Ganz sicher, dass mir das heute aus einer ganz anderen politischen Position nicht pfeilgrad so wieder ginge, will ich nicht ausschließen. Gewisse Tunixdenkstile sind übrigens heute noch verdammt virulent. Dunkel taucht auch das Bild eines skandalösen Auftritts mit dem Obersponti von Stuttgart in einem griechischen Lokal des Bohnenviertels auf, wo es fast zu einer Schlägerei kam. Meine damalige Freundin begütigte und verhinderte das aber.

In Abwesenheit

Daniel Cohn-Bendit, 62, war seinerzeit Herausgeber des Stadtmagazins Pflasterstrand und ist heute Mitglied des Europäischen Parlaments (Die Grünen und Les Verts).

Ich war nicht bei Tunix. Warum, weiß ich nicht mehr. Aber dieser Kongress war einer der vielen Versuche, an die Bewegungsfähigkeit der antiautoritären Revolte anzuknüpfen. Und deswegen war das wichtig, und eigentlich wäre ich gern dabei gewesen, um bestimmte Diskussionen, die dort angestoßen worden sind, voranzutreiben. Zum Beispiel die um linksautoritäre Vorstellungen von Revolution und Revolte.

Veränderung macht Spaß

Arnulf Rating, 56, war Mitgründer der Berliner Anarchokabaretttruppe „Die 3 Tornados“ und düst noch immer als Kabarettist über Deutschlands Bühnen.

Wir waren Teil der Spaßguerilla, Tunix war der Versuch, das Heft wieder in die Hand zu nehmen und aus dem Dilemma zwischen RAF und Polizeistaat herauszukommen. Wir wollten zeigen, dass Veränderung Spaß macht.

Wir brannten

Bruno Gmünder, 51, war damals Jurastudent und aktiv bei der Münchener Roten Hilfe. Die Bruno Gmünder Mediengruppe beschäftigt heute über 100 Mitarbeiter.

Der Traum war zum Trauma geworden. Buchstäblich zerschossen, irgendwo zwischen Stammheim und Mogadischu hatten sich unsere Träume aufgelöst, und jetzt öffneten sich unsere Augen: Die ganze Richtung war falsch gewesen, wir brauchten eine Kurskorrektur. Wir brannten, und wir suchten eine neue Richtung für unsere Energie. Das war Tunix. Ein Nachdenken über das Neue. Das Ende des revolutionären Traums und der Beginn der eigenen Verantwortung. Ich war gerade 21, kam aus der Roten Hilfe in München, vom Blatt und war nur noch genervt, jeden Morgen die Polizei vor dem Haus stehen zu sehen. Für den Schriftsteller Peter Schult wollte ich in Berlin ein Kampagne zu seiner Freilassung lostreten – und eine Homo-WG in Berlin wollte mich dabei unterstützen: Auch sie war von dieser Energie erfasst worden. Ein Projekt – Druckerei, Kino, Buchhandlung? – war in unseren Köpfen. Draus geworden ist dann bald Berlins erster schwuler Buchladen „Prinz Eisenherz“, und weit später der Bruno Gmünder Verlag. Wir waren nicht gestrandet, wir waren endlich angekommen!

Fußball und Tunix

Diethard Küster, 55, war damals Germanistikstudent an der FU und als Sponti im Chilekomitee aktiv. Heute lebt er als Regisseur und Produzent (u. a. „Tatort“, „Alarm für Cobra 11“) in Berlin.

Wir hatten damals eine Fußballrunde mit Berliner Spontis, haben immer hinter der Kongresshalle gespielt. Beim Bier danach kam die Idee zum Kongress. Wir wollten ein Signal setzen. Es war wie ein Festival, ein linkes Freakfestival. An die 40.000 Demoteilnehmer, das hat die Berliner verunsichert, wir hatten einen Nerv getroffen.

Schmuckes Beiwerk

Lisa Schuster, 54, arbeitete damals als Erzieherin und ist heute in der taz-Buchhaltung tätig.

Ich bin hauptsächlich der Liebe wegen zum Tunixkongress gegangen: Er hieß Richard und trug sein Haar schön halblang. Auf dem Kongress war ich also eher schmuckes Beiwerk. Die Studenten dort waren sehr nett, aber ich verstand kein Wort von dem, was die da so von sich gaben. Gerade deshalb hat mich der Tunixkongress beeinflusst: Genau dort beschloss ich, meinen Beruf als Erzieherin aufzugeben, um auf dem zweiten Bildungsweg meinen Realschulabschluss zu machen. Ich wollte ja verstehen.

Emanzipativer Schub

Konny Gellenbeck, 52, war damals Studentin in Münster und ist heute Leiterin der taz-Genossenschaft.

Tunix hat uns damals unglaublich mobilisiert. Wir sind zu vielen aus der Provinz nach Berlin angereist – und schon die Unterbringung in der riesigen Altbauwohnung beim Merve Verlag war ein Erlebnis. Als Foucault mitten in der Nacht auftauchte, standen wir einfach wieder auf und diskutierten weiter. Ich war damals schon in einer Frauengruppe organisiert; schade ist, dass heute in der Nachbereitung die Frauen so unsichtbar bleiben, denn gerade der Kongress hat damals für unsere Frauengruppe in Münster einen richtigen Mobilisierungsschub bewirkt.