Nicaragua ein Jahr nach der Wahl: Der zweite Frühling der Sandinisten

Als die Sandinisten die Wahl gewannen, ging Carmen Vanzetti als Ärztin in den Norden. Hier erfüllt sie das Wahlversprechen von Präsident Ortega: das Ende der Armut.

Wählern wie Azucena Ramos (l.) und ihrem Mann Roger Morales hat Ortega ein besseres Leben versprochen. Bild: reuters

YALAGÜINA taz Schwere Lastzüge donnern gen Norden. Sie brausen vorbei an Yalagüina, dem Dorf in Nicaragua, Richtung Honduras. Von der Straße aus sind die geduckten Lehmhütten vor der üppigen tropischen Landschaft kaum zu erkennen. Keine Tankstelle, keine Garküche für Fernfahrer, nicht mal ein Ortsschild gibt es hier. Aber ein meterhohes Werbeplakat. Es zeigt Daniel Ortega, seit einem Jahr wieder Regierungschef in Nicaragua. Auf dem Bild trägt der 61-Jährige eine zerknitterte Bundfaltenhose, die Ärmel des weißen kragenlosen Hemds hat er hochgekrempelt. Die linke Faust reckt er in den rosaroten Himmel, mitten hinein in die Buchstaben der ersten Zeile der Internationale: "Arriba los pobres del mundo!" - Wacht auf, Verdammte dieser Erde!

Das Land: Nicaragua ist das größte, aber mit 5,6 Millionen EinwohnerInnen am dünnsten besiedelte Land Mittelamerikas. Die Sandinisten: 1979 stürzte ein Volksaufstand unter Führung der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN die Diktatur des Somoza-Clans. Die neue Regierung unter Führung Daniel Ortegas begann einen umfangreichen Prozess sozialer Umverteilung. Doch dogmatisch-autoritäres Avantgardegehabe, interne Fehler und vor allem der von den USA finanzierte Krieg der Contras zermürbten Regierung und Bevölkerung, so dass die konservative Opposition 1990 die Wahlen gewann. Die FSLN blieb stärkste Partei. Die Sandinisten: 1979 stürzte ein Volksaufstand unter Führung der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN die Diktatur des Somoza-Clans. Die neue Regierung unter Führung Daniel Ortegas begann einen umfangreichen Prozess sozialer Umverteilung. Doch dogmatisch-autoritäres Avantgardegehabe, interne Fehler und vor allem der von den USA finanzierte Krieg der Contras zermürbten Regierung und Bevölkerung, so dass die konservative Opposition 1990 die Wahlen gewann. Die FSLN blieb stärkste Partei.

In der spanischen Version der Hymne der Arbeiterklasse werden die Verdammten eigentlich mit parias übersetzt; der in Lateinamerika gesungene Text dagegen spricht von pobres, Armen. Zu Recht. Die Armen in Yalagüina sind verdammt arm, und es gibt hier genug von ihnen. 5.000 Einwohner hat das Dorf, hinzu kommen noch einmal so viele, verteilt auf winzige Käffer, die nur mit Geländewagen zu erreichen sind. Oder mit dem Pferd, in dieser Gegend ohnehin das gängigere Transportmittel. Über die Hälfte der Leute hier leben von weniger als zwei Dollar am Tag - Yalagüina liegt in der Hungerzone Nicaraguas.

"Elf Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch unterernährt", sagt Carmen Vanzetti. Sie leiden an Durchfällen "wegen der zum Teil furchtbaren hygienischen Zustände". Sie haben Atemwegserkrankungen "wegen des vielen Staubs in der Trockenzeit und weil die Menschen in ihren Hütten auf Holzfeuern kochen". Unerklärlich viele Ältere haben Knochenschwund, Carmen Vanzetti weiß noch nicht, woran das liegt, "aber ich werde es herausfinden".

Die 26-Jährige Ärztin ist freiwillig hierher nach Yalagüina gekommen. Zuvor hat sie in Kuba studiert und danach als Amtsärztin in der Hauptstadt Managua gearbeitet, ein ruhiger sicherer Job. Als aber vor einem Jahr Ortega zum neuen Präsidenten gewählt wurde, reichte ihr das nicht mehr. Sie meldete sich freiwillig zum Dienst im Norden. Denn Carmen Vanzetti ist Sandinistin.

Ihr Vater, der deutsche Neurochirurg Ernst Fuchs, hat schon vor fast drei Jahrzehnten hier in der Gegend gearbeitet. Er war 1978 von Berlin nach Nicaragua gegangen, hatte sich der sandinistischen Guerilla angeschlossen und den Decknamen Carlos Vanzetti angenommen. Als die Sandinisten im Juli 1979 die Diktatur des Somoza-Clans gestürzt hatten, blieb er da, ging in den Norden und baute dort das staatliche Gesundheitswesen für die Armen auf. Was er geschaffen hat, war schon wieder ziemlich heruntergekommen, als die Sandinisten 1990 abgewählt wurden. Die folgenden 16 Jahre unter neoliberalen Regierungen haben die letzten Reste an staatlicher Wohlfahrtspolitik beseitigt.

Der alte Vanzetti ist vor vier Jahren gestorben. Vor seinem Tod hätte er es wohl kaum für möglich gehalten, dass seine Tochter noch einmal dasselbe tun würde wie er. Niemand rechnete damit, dass Daniel Ortega, einst die Lichtgestalt der Linken und später zum bloßen Machtpolitiker verkommen, noch einmal Regierungschef werden würde. Als Vanzetti starb, kungelte sein früherer Held mit der Rechten. Er sprach mehr von Gott als von Revolution, weil er glaubte, damit im tiefgläubigen Nicaragua Wähler zurückgewinnen zu können. Compañeros, die es wagten, ihn zu kritisieren, wurden einfach aus der sandinistischen Partei ausgeschlossen. Kurz vor der Wahl im vergangenen November schloss Ortega gar einen Pakt mit Miguel Obando y Bravo, dem reaktionären Erzbischof von Managua: Seine Parlamentsfraktion unterstützte eine Gesetzesänderung, nach der Schwangerschaftsabbrüche selbst nach Vergewaltigungen und bei Lebensgefahr für die Mutter verboten sind. Noch Jahrzehnte zuvor hatten die Sandinisten das Abtreibungsrecht liberalisiert.

Hätte man so einem eine Linkswende zugetraut? Außenpolitisch vielleicht. Der Präsident eines kleinen und wirtschaftlich unbedeutenden Landes wird international nur wahrgenommen, wenn er provoziert. Also reihte sich Ortega nach der Wahl in den revolutionären lateinamerikanischen Männerbund aus Fidel Castro, Hugo Chávez und Evo Morales ein. Er reiste in den Iran, verteidigte vor der UNO-Vollversammlung dessen Recht auf ein eigenes Atomprogramm und schloss "unverbrüchliche Freundschaft mit dem Brudervolk von Nordkorea". Der Regierung in Washington bot er an, einst von der Sowjetunion gelieferte Boden-Luft-Raketen zu verschrotten, wenn Präsident George W. Bush ihm den Gegenwert in Medikamenten schickt.

Ortega wusste natürlich, dass George W. Bush keine Medikamente schicken würde. Stattdessen schickt er sie selbst. "Jeden Monat kommt jetzt ein Laster und bringt, was wir brauchen", sagt Carmen Vanzetti. In der Dorfapotheke von Yalagüina stapeln sich die Schachteln mit Tabletten, Hustensäften und Spritzen. Im Nebenhaus ist provisorisch der Gesundheitsposten eingerichtet: ein Behandlungszimmer, ein kleiner OP-Saal und Räume für das Personal. Vier Ärzte und neun Krankenschwestern arbeiten inzwischen hier, die neue Regierung hat das Personal verdoppelt. "Früher", sagt Vanzetti, "war der Gesundheitsposten von acht bis zwei geöffnet, jetzt ist er rund um die Uhr besetzt." Früher war auch die Apotheke ein Privatunternehmen. "Die Ärzte", erzählt sie, "haben Rezepte ausgestellt, aber die Patienten hatten kein Geld, die Arznei zu kaufen. Sie haben ja nicht einmal genug zu essen." So blieben sie zu Hause und versuchten sich selbst zu helfen.

An ein Wartezimmer hat man deshalb beim Bau erst gar nicht gedacht, die Patienten warten draußen, auf der überdachten Veranda. Männer mit breitkrempigen Strohhüten lehnen schweigend an den Säulen, Frauen beruhigen ihre rotzenden Kinder. Die Zahl der Behandelten hat sich innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht. Früher kamen dreihundert im Monat, heute sind es über tausend. "Wir fahren auch raus zu den Leuten", sagt Vanzetti, "die neue Regierung will, dass wir auf die Menschen zugehen, dass wir ihnen die Hand geben, dass wir mit ihnen reden." Sie ist Mitglied der sandinistischen Jugend und des sandinistischen Ärzteverbands. Und sie ist - als jüngste - die Chefin des Gesundheitspostens.

Morgens war sie schon mit vier Kollegen in einer abgelegenen Siedlung. Sie sind mit dem Krankenwagen hingefahren und haben 62 Hunde gegen Tollwut geimpft. Die Kollegen hätten ein bisschen gemault, erzählt Vanzetti, das sei doch keine Arbeit für einen Arzt. Aber sie habe ihnen klargemacht, dass auch Hundeimpfen zur Präventivmedizin gehöre.

Zwei Gassen weiter wird gerade das neue, größere Gesundheitszentrum gebaut. Eigentlich sollte schon es längst fertig sein, einer von Ortegas Vorgängern, der rechte Präsident Arnoldo Alemán, hatte unter großem Getöse einst den Grundstein gelegt. Selbst der war irgendwann geklaut worden. Erst jetzt wurde wieder mit dem Bau begonnen. Die Geburtsklinik soll noch in diesem Jahr fertig werden, der Rest dauert noch.

Bautrupps sind auch an der Dorfschule beschäftigt. Das Lehrpersonal wurde verdoppelt. Neuerdings wird kein Schulgeld mehr verlangt, Schuluniformen sind nicht mehr Pflicht. So können auch Familien, die sich die Einheitskleidung nicht leisten können, ihre Kinder zum Unterricht schicken. Abends finden Alphabetisierungskurse für Erwachsene statt. Den Bauern in der Umgebung, die meist nur von Mais und Bohnen leben und allenfalls ein paar Hühner besitzen, hat die Regierung trächtige Kühe und Schweine geschenkt. Das Programm "Null Hunger" ist im Norden angelaufen, weil es hier am meisten Hunger gibt.

Dahinter steckt auch politisches Kalkül: Hier wütete während der ersten sandinistischen Regierungszeit der Krieg der Contras. Die von Washington finanzierten Konterrevolutionäre beherrschten das Hinterland nahe der Grenze zu Honduras. Viele Bauern hielten zu den bewaffneten Banden. "Wir müssen die Leute hier für uns gewinnen", sagt Carmen Vanzetti. "Ich sage ihnen, dass sie das alles Daniel Ortega zu verdanken haben - dass er das Gesundheitszentrum bauen lässt und ihnen die Kühe und Schweine schickt."

Auf der Werbetafel draußen an der Straße steht über der Liedzeile aus der Internationale "El Pueblo, Presidente!". Damit will die Regierung wohl sagen, dass jetzt das ganze Volk Präsident ist. Oder meint Ortega eher: "Das Volk bin ich, der Präsident"? Egal. Er hat jedenfalls dafür gesorgt, dass in Yalagüina etwas getan wird, das 16 Jahre lang versäumt wurde.

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