Die Basis SPD III: Genosse Arbeitslos

Karl-Heinz Häusler aus Chemnitz hat 10 Jahre lang für die SPD gearbeitet. Inzwischen testet der 53-jährige selbst die Agenda 2010 - er ist seit zwei Jahren auf Jobsuche.

CHEMNITZ taz Er hält jetzt lieber Abstand von dem Gelände. Vor der Hofeinfahrt, an der roten Parteifahne, bleibt Karl-Heinz Häusler * stehen, zeigt auf die Sprossenfenster im Hinterhaus: Da oben war damals das Wahlkreisbüro. Sein Büro. Während die Chefin im Bundestag für die Hartz-Reformen stimmte, erledigte er dort ihre Geschäfte in der Provinz. In seinem Büro saßen ratlose Bürger, die wissen wollten, ob sie nun ihre Wohnungen räumen und ihre Konten plündern müssten. Er bemühte sich, den Leuten zu helfen und trotzdem für die SPD zu sprechen - soweit beides zusammenging. Das war damals sein Job. Ein "ungutes Gefühl" habe er gehabt, sagt Häusler. "Da schmorte etwas. Das war mir klar."

Sein Büro steht jetzt leer. Karl-Heinz Häusler hat es selbst abgewickelt. Das war im Herbst vor zwei Jahren. Seine Chefin, Jelena Hoffmann, hatte bei der vorgezogenen Neuwahl nicht noch einmal für den Bundestag kandidiert. Häusler tippte ein paar Abschiedsbriefe für die SPD-Politikerin, sortierte ihre Akten, übrig blieben geräumte Schreibtische. Und übrig blieb auch er, der 53-jährige Diplomingenieur. Einer jener älteren Arbeitslosen, über die die Genossen beim Bundesparteitag abstimmen. Das Ergebnis ist schon jetzt klar: Die Delegierten werden den Vorschlag von SPD-Chef Kurt Beck absegnen. Menschen über 45 Jahre sollen wieder länger Arbeitslosengeld bekommen.

"Das wäre immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung", sagt Karl-Heinz Häusler. Er ringt sich ein Lächeln ab. "Ich bin froh, dass es jetzt überhaupt wieder solche Diskussionen in der SPD gibt." Froh? Sein Ton klingt, als würde er der Partei eine letzte Mahnung aussprechen.

Karl-Heinz Häusler ist selbst SPD-Mitglied, er engagiert sich als Kassierer im Ortsverein Chemnitz-Mitte. Immer noch, könnte man sagen. Denn seit zwei Jahren testet er die neuen Hartz-Gesetze, die er nicht nur dem Votum seiner letzten Chefin zu verdanken hat - sondern ein wenig auch sich selbst. Schließlich arbeitete er damals als Wahlkreismitarbeiter der SPD-Abgeordneten zu. Er selbst habe die Agenda "nie voll vertreten", sagt Häusler heute. "Aber ich hatte ja eine Loyalitätsverpflichtung." Und einen Job.

Der SPD-Mitarbeiter ahnte nicht, was die Sozialreform ihm noch bringen würde. Gestern erst hatte Häusler seinen ersten Probetag im Callcenter. Er bekam ein Headset auf und konnte loslegen: Leute anrufen, um ihnen den Hausbesuch eines Finanzberaters aufzudrängen. Er hätte auch gleich weiterjobben dürfen. Allerdings zahlt die Firma keinen Lohn, sondern nur Erfolgsprovision: 7 Euro 50 pro zustande gekommenem Verkaufsgespräch - und maximal 165 Euro im Monat. Morgen wird er sich einen Posten als stellvertretender Depotleiter bei einem Tiefkühlkost-Auslieferer anschauen. Der sucht eine Führungskraft, die werktags von 9 bis 20 Uhr arbeitet und jeden zweiten Samstag von 9 bis 17 Uhr - geboten werden 1.100 Euro brutto im Monat plus 4,09 Euro Verpflegungspauschale am Tag.

Eine Weile hat Häusler gezögert, ob er seine Geschichte erzählen soll. Er will weder die Parteifreunde brüskieren, noch seine letzten Chancen auf dem Arbeitsmarkt verspielen. Aber er hat auch das Bedürfnis zu berichten, wie sich die Erfolgsgeschichte der Agenda 2010 darstellt für einen Sozialdemokraten, der in die Verlegenheit gekommen ist, sie als Arbeitsloser auszuprobieren. "Vielleicht gibt das dem Müntefering doch zu denken", sagt er. "Diese Hoffnung verbinde ich damit. Ja. Ich habe die Hoffnung in vielen Dingen noch nicht aufgegeben."

Zum Gespräch bittet er ins Chemnitzer DGB-Büro. Die Regionsvorsitzende des Gewerkschaftsbundes, Heidi Becherer, empfängt ihn freundschaftlich. Sie hat 2004 vergeblich auf Häuslers Chefin eingeredet, doch gegen die Agenda zu stimmen.

Karl-Heinz Häusler packt einen Stapel prall gefüllter Aktendeckel aus einem blauen Baumwollbeutel, türmt ihn auf dem Konferenztisch. Wäre das seine Krankenakte, man müsste sich ernstlich um den 53-Jährigen sorgen. Aber Häusler sieht frischer aus als viele Mittdreißiger: tiefbraunes Haar, dunkler Teint, faltenfreies rosa Kurzarmhemd, dunkelblaue Jeans.

Mehr als 50 Bewerbungen hat er allein im letzten Jahr verschickt. Mal war er zu alt, dann wieder zu jung. Er hat zehn Jahre Berufserfahrung als Diplomingenieur. Aber wen interessiert das heute? Häusler arbeitete beim VEB Numerik, als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß - eine Steinzeitwerkstatt aus Sicht heutiger Personalchefs. Schon 1991 ließ er sich umschulen. Häusler lernte die Grundregeln der Betriebswirtschaftslehre, durchlief eine Ausbildung zum Netzwerkadministrator. Sieben Jahre managte der Ingenieur für einen SPD-Landtagsabgeordneten das Büro, drei Jahre für die Bundestagsabgeordnete Jelena Hoffmann.

Seit der Neuwahl im Herbst 2005 ist er arbeitslos. Er ist nicht der einzige Wahlkreismitarbeiter, dem es so geht. Das Problem mit den älteren Kollegen ist der SPD-Fraktion in Berlin bekannt.

Wenn Karl-Heinz Häusler nun vormittags daheim die Lokalzeitung studiert, traut er seinen Augen nicht: Die Agenda 2010 sei ein Erfolg, verkündet Müntefering da. Die älteren Arbeitslosen würden doch lieber schnell wieder eine Stelle bekommen, als dem Staat lange auf der Tasche zu liegen. Häusler fragt sich: Von welchen Jobs spricht der Franz da bloß?

Die SPD in Sachsen gehört nicht zu dem, was man eine Boombranche nennt. In der jüngsten Umfrage landete die Partei bei 8 Prozent. Obendrein hat Häusler für eine Sozialdemokratin gearbeitet, die als Unperson aus der Fraktion schied. Jelena Hoffmann wollte Kanzler Gerhard Schröder das Vertrauen nicht entziehen, als einzige SPD-Parlamentarierin zog sie sogar vors Bundesverfassungsgericht, um die Neuwahlen zu torpedieren. Nach dieser Solonummer suchte sich ihr sozialdemokratischer Nachfolger in Chemnitz für sein Wahlkreisbüro lieber neues Personal.

Zehn Arbeitsjahre in der Politik machen Häusler heute zum Problemkandidaten. "Herr Häusler, Sie haben schwere Vermittlungshemmnisse", eröffnete ihm die Fallmanagerin bei einem seiner ersten Termine im Jobcenter. "Leute aus Tendenzbetrieben wie der SPD, die kommen schlecht an bei den Arbeitgebern." Also tilgte er die Buchstaben SPD aus seinem Lebenslauf.

Bis August hat Häusler Arbeitslosengeld I bekommen - 1.080 Euro im Monat. Dann war er eigentlich reif für Hartz IV. Doch dafür geht es ihm nach den Maßstäben der rot-grünen Sozialreform noch zu gut. Häusler hat für sich und seine Frau eine Altersvorsorge angespart: zwei Lebensversicherungen à 7.500 Euro schloss er ab, investierte in einen Fonds. Damit liegt das Ehepaar über der Bedürftigkeitsgrenze von 16.900 Euro. Im vergangenen Monat hat Häuslers Tochter geheiratet. Die Eltern hätten ihr ein ordentliches Geldgeschenk machen können, aber sie trauten sich nicht. "Das hätte als bewusste Herbeiführung von Bedürftigkeit gelten können." Der Genosse starrt mit geröteten Wangen auf seinen letzten Behördenbescheid.

"Was dem Karl-Heinz passiert", sagt die DGB-Frau, "das wird in der Partei mit Stillschweigen übergangen. Hier in der Region gibt es einfach ganz wenige Jobs. Der Karl-Heinz gehört nicht zu denen, die sich in der Arbeitslosigkeit eingerichtet haben."

Glaubt man der Statistik der Arbeitsagentur, dann geht es im Bezirk Chemnitz inzwischen aufwärts. Die Zahl der älteren Arbeitslosen sinkt, allein seit September 2006 um 14 Prozent. Müntefering könnte jubeln: Seht, die Agenda 2010 wirkt! Häusler hat seine silbrige Brille abgesetzt, auf die Aktenmappen gelegt und sich im Stuhl zurückgelehnt. "Was Arbeit schafft, ist gut - das ist CDU-Logik. Da gehe ich nicht mit. Nicht jede Arbeit ist menschenwürdig. Ich habe eine gute Ausbildung, ich bin nicht wegen Fehlleistungen gekündigt worden. Ich habe mich im Leben bewährt."

Seine Chefin Jelena Hoffmann arbeitet heute als Unternehmensberaterin. Sie weiß, wie es um ihren früheren Mitarbeiter steht. Rückblickend halte sie einige Punkte der Reform für "überzogen", sagt sie. Es sei kaum zumutbar, dass Menschen wie Häusler nach so vielen Arbeitsjahren erst alle Ersparnisse verbraten müssten, bevor sie Unterstützung bekämen. Sie sagt: "Wir haben die Hartz-IV-Empfänger nackt ausgezogen." Würde sie heute wieder für die Agenda 2010 stimmen? "Ja", sagt Jelena Hoffmann fest. "Ich bereue meine Entscheidung nicht. Die Notwendigkeit war da, die Richtung war okay."

Karl-Heinz Häusler lebt seit September mit von den 1.100 Euro, die seine Frau als Küchenleiterin in einem Pflegeheim verdient. Er steht wie sie um kurz nach fünf Uhr in der Früh auf. Er will nicht faul liegen bleiben, während sie für ihn arbeiten geht. Häusler wird wohl bald einen Billigjob annehmen. Er bringt es nicht fertig, seine Altersvorsorge zu kündigen. "Glauben Sie mir", sagt Karl-Heinz Häusler, "53 Jahre, das ist ein fürchterliches Alter."

* Name geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.