Das entzauberte Wolfsmädchen

Millionen Menschen haben „Survivre avec les loups“ (Überleben mit Wölfen) gelesen. Hunderttausende haben in Frankreich und Belgien die Verfilmung gesehen. Sie haben gelitten und geweint, während auf der Leinwand die „wahre Geschichte“ der kleinen Misha Defonseca lief. Ein achtjähriges Mädchen, das mitten im Krieg in Europa versucht, seine von den Nazis deportierten jüdischen Eltern zu finden, und das Wölfe in ihr Rudel aufnehmen.

An die Stelle des berührenden Kinderschicksals vor dem Hintergrund des Holocaust ist jetzt das Gesicht einer 71-jährigen Dame getreten. „Misha Defonseca“ lebt in Boston, trägt blonde Haare und eine Kette mit großen silbernen Wölfen. Ihre 1997 in den USA erschienene Erfolgsstory, die in 18 Sprachen übersetzt wurde, gab sie als ihre eigene aus. Vorige Woche veröffentlichte ihr belgischer Anwalt diesen Brief: „Tatsächlich heiße ich Monique De Wael. Aber seit ich vier Jahre alt bin, wollte ich vergessen. Ich entschuldige mich bei allen, die sich verraten fühlen.“

Vor dem öffentlichen Mea culpa hatte ein Journalist des belgischen Le Soir über Ungereimtheiten in dem Film recherchiert. Marc Metdepenningen fand heraus, wie die Kindheit von Defonseca/De Wael tatsächlich verlief: Ihr Vater und ihre Mutter wurden wegen Aktivitäten in der Résistance verhaftet. Kurz vor Kriegsende wurden beide in einem deutschen Gefängnis ermordet. Die Tochter der katholischen Familie wuchs bei Verwandten auf. Später bekam sie eine Entschädigung als Kriegswaise, zog in die USA und heiratete einen Mann aus jüdischer Familie. Als Erwachsene züchtete sie Wölfe.

In ihrer Entschuldigung erklärt De Wael, dass sie als kleines Mädchen gelitten und sich bei ihren Verwandten fremd gefühlt habe. „Dieses Buch ist meine Geschichte“, sagt sie, „es ist nicht die reale Geschichte, aber es ist meine Realität. Meine Art zu überleben.“

De Waels US-Verlegerin erwägt jetzt eine Betrugsklage. Jane Daniel hatte die Autorin gedrängt, ihre Geschichte aufzuschreiben, die sie zuvor nur im kleinen Kreis erzählte. Daniel verdiente Millionen mit dem Buch. Als sie einen Teil davon unterschlug, verurteilte ein US-Gericht sie 2001 zu Schadenersatz von mehreren Millionen Dollar an die Autorin. Der französische Verleger von De Wael, Bernard Fixot, der auf Leidensgeschichten von Frauen spezialisiert ist, und die Filmemacherin Vera Belmont wollen nicht klagen. Sie zeigen sich nur extrem überrascht, „traurig“ und „enttäuscht“. Eigene Recherchen über die Authentizität der Geschichte haben beide nie angestellt. Belmont reichte ein Blick auf die lädierten Beine der alten Dame, um die Kindheit unter Wölfen zu glauben.

DOROTHEA HAHN