DGB-Chefökonom über Armut: "Der Sozialstaat wird rückgebaut"

Mehr Armut, weniger Arbeitslose - der Chefvolkswirt des DGB Dierk Hirschel warnt vor Weimarer Verhältnissen: Zwei von fünf Deutschen lebten in Armut - wenn es den Sozialstaat nicht gäbe.

Die Hartz-Reform hat Armut steigen lassen, meint Hirschel. Bild: dpa

DIERK HIRSCHEL, 38, war Tischler, erforschte später den "Einkommensreichtum und seine Ursachen" und firmiert heute als Chefökonom des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Heute kommen die neuen Arbeitslosenzahlen - und sie sind gut. Nach Berechnungen der Volkswirte der Banken sinkt die Zahl der Erwerbslosen im Mai erneut um rund 160.000 - auf 3,25 Millionen. Dies wären rund 560.000 weniger als vor einem Jahr. Auch der bereits am Mittwoch veröffentlichte Stellenindex der Bundesagentur wies auf einen Arbeitsmarktaufschwung auf hohem Niveau hin. Viele Unternehmen schaffen neue Arbeitsplätze. Gesucht seien gute und hoch qualifizierte Mitarbeiter, betonte die Bundesagentur.

Der Chef des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat der Politik indes statistische Tricks vorgeworfen. Es gebe in Deutschland "gut fünf Millionen Menschen, die gerne arbeiten würden", sagte Joachim Möller. Neben der offiziellen Erwerbslosenzahl von 3,25 Millionen gebe es etwa 625.000 Menschen, die nicht arbeitslos gemeldet seien. Zudem eine Million Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.

Herr Hirschel, heute wird Herr Scholz wieder famose Arbeitslosenzahlen beklatschen. Ihre Zahl sank im Mai auf 3,25 Millionen. Hat die Regierung Deutschland wirtschaftlich aus dem Tal geführt?

Dierk Hirschel: Dass die Wirtschaft heute wächst und neue Jobs entstehen, ist das Ergebnis eines ganz normalen Investitionszyklus. Im letzten Aufschwung zwischen 1998 und 2000 gab es mehr Jobs als heute.

Die SPD wird nicht müde, den Erfolg auf die Agenda 2010 zurückzuführen.

Die Agenda 2010 hat mit dem Aufschwung genauso viel zu tun wie die Geburtenrate mit der Zahl der Störche. Statt über das Fortsetzen einer gescheiterten Politik zu debattieren, sollten wir uns lieber über die pathologische Verfasstheit der Wirtschaft unterhalten. Der private Konsum kommt nicht in Schwung - trotz Aufschwung. Und die Exportabhängigkeit verstärkt sich. Dass geht nach hinten los - spätestens, wenn es mit dem Aufschwung bald vorbei ist.

Wie kommen Sie darauf, dass es eine Krise geben wird?

Die Auswirkungen der Finanzkrise, der starke Euro und weiter steigende Rohstoffpreise werden auch deutsche Unternehmen treffen. Mitte, spätestens Ende des Jahres endet der Zyklus der Hochkonjunktur - dann rutscht die deutsche Wirtschaft in den Abschwung.

Was wird im Abschwung passieren?

Die Arbeitslosigkeit wird steigen und die Umverteilung wird zunehmen. Vom Aufschwung haben fast ausschließlich Besserverdienende und Unternehmen profitiert. Gewinn- und Vermögenseinkommen sind in den vergangen vier Jahren um ein Viertel gestiegen - die Realeinkommen aber gesunken.

Sozialminister Olaf Scholz kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Er sagt: "Der Sozialstaat wirkt." Stimmt das?

Zum Teil. Ohne staatliche Umverteilung hätten wir heute Weimarer Verhältnisse. Zwei von fünf Menschen würden in Armut leben.

Herr Hirschel, dieser Vergleich ist doch unseriös. Massenarbeitslosigkeit und Inflation stellten den jungen Sozialstaat der Weimarer Republik vor ganz andere Probleme.

Aber auch heute nimmt die Korrekturfunktion des Sozialstaats stark ab. Es gelingt uns immer weniger, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich auszugleichen. Die Dynamik der sozialen Spaltung hat eine völlig neue Qualität erreicht.

Worin besteht die?

Neueste Studien belegen, dass die Spreizung zwischen hohen und niedrigen Einkommen zwischen 1998 und 2005 um 10 Prozent zugenommen hat. Richtig interessant wird es aber, wenn man die Situation nach staatlicher Umverteilung betrachtet. Nach Steuern, Abgaben und Transfers ist die Ungleichverteilung im gleichen Zeitraum um 17 Prozent gestiegen. Das ist doch verrückt!

Heißt das, die Politik mindert die Ungleichheiten des Marktes nicht, sondern verstärkt sie?

Die Wirkung des staatlichen Steuer- Abgaben- und Transfersystems hat sich eindeutig verschlechtert. Wer soll anderes dafür verantwortlich sein, wenn nicht die Steuer-, Sozial- Arbeitsmarkt- und Einkommenspolitik?

Vielleicht der böse Kapitalismus und die Globalisierung. Die Lohnkonkurrenz aus anderen Ländern nimmt zu, die Gewerkschaften sind schwach.

Dafür die Globalisierung verantwortlich zu machen ist absurd. Dass der Kapitalismus aus sich selbst heraus Ungleichheit produziert, wissen wir seit über 200 Jahren. Die westeuropäische Antwort darauf waren der Sozialstaat und starke Gewerkschaften. Diese Erkenntnis ist offensichtlich verloren gegangen. Minilöhne, 1-Euro-Jobs, Leiharbeit und andere Formen prekärer Beschäftigung fallen doch nicht einfach vom Himmel. Der massive Lohndruck ist vor allem durch die Hartz-Reformen entstanden. Das hat die Gewerkschaften empfindlich geschwächt.

Das Ziel dieser Politik ist ein ausgeglichener Haushalt - letztlich sinkende Staatsschulden und Zinszahlungen.

Das Fatale ist: Die Politik hat Billiglöhne gefördert und bei Bedürftigen gekürzt, gleichzeitig aber die Reichen gepflegt. Besserverdienende wurden durch die Senkung des Spitzensteuersatzes um 9 Milliarden Euro pro Jahr entlastet, Unternehmen um 16 Milliarden Euro. Als Folge sind die Nettoeinkommen der Besserverdienenden stärker gestiegen als ihre Bruttoeinkommen. Der öffentliche Schuldenberg wurde dadurch nicht abgebaut.

Vor kurzem hat Sozialminister Scholz den Entwurf für den aktuellen Armutsbericht vorgestellt. Seine Sicht ist wesentlich optimistischer.

Olaf Scholz hat den undankbaren Job, aus einer gescheiterten Politik eine Erfolgsgeschichte schreiben zu müssen. Scholz hat aus der ganzen Breite von empirischen Ergebnissen vor allem Statistiken zitiert, die die Lage in weicherem Licht erscheinen lassen.

Scholz lügt also?

Nein, aber er lässt wichtige Fakten einfach weg. Ein in der Politik übliches Vorgehen. Er hat natürlich kein Interesse daran, das Versagen der Regierungspolitik amtlich zu dokumentieren. Schließlich war er unter Bundeskanzler Schröder zwei Jahre lang Generalsekretär - und damit wesentlich an der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen beteiligt.

Hartz IV gleich staatlich geförderte Armut. Richtig?

So einfach ist das nicht. Aber indem die Politik das Arbeitslosengeld auf Sozialhilfeniveau gesenkt hat, hat sie die Arbeitslosenversicherung zu einem System der Armutsfürsorge umgebaut. Jetzt ist erwiesen: Diese Reform hat Armut steigen lassen.

Dafür möchte ich, bitte, einen Beleg haben.

Jeder zweite Hartz-IV-Empfänger hat heute weniger Geld zum Leben als vorher. Andere Sicherungsnetze - die Grundsicherung im Alter, die Sozialhilfe, das Bafög und andere Transfers - wurden kaum noch an steigende Lebenshaltungskosten angepasst. Im Gegenteil: Seit 1998 wurden die Transfers real um bis zu 13 Prozent gekürzt.

Wie müsste die SPD reagieren?

Es trifft nicht allein die SPD. Für sie ist nur die Fallhöhe am Größten. Christdemokraten und Liberale haben die sogenannten Reformen noch verschärft. SPD und Grüne haben mit der Agenda 2010 die Idee vertreten, der umverteilende Sozialstaat gehöre ins Museum, während stattdessen der investierende Sozialstaat das einzig Wahre sei. Sie müssen realisieren, dass dieser Ansatz auf ganzer Linie gescheitert ist.

Warum?

Alle Daten belegen: Der faktischen Rückbau des umverteilenden Sozialstaates hat die öffentliche Armut nicht beseitigt. Die Kassen von Bund, Ländern und Kommunen sind nach wie vor leer. Die Idee des investierenden Sozialstaats ist wie eine Seifenblase geplatzt. Das zeigt sich besonders deutlich in der Bildungspolitik.

Bildung ist ein erklärter Schwerpunkt der Bundesregierung wie der Länder. Es werden Milliarden eingesetzt - zum Beispiel für den Ausbau der Kinderbetreuung.

Auf keinem anderen Politikfeld klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander. In Deutschland wird es bereits als bildungspolitischer Durchbruch gefeiert, wenn jedes zehnte Kind unter drei eine Kita besuchen darf. Wenn man aber im Bildungsbereich das deutsche Niveau mit dem skandinavischen vergleicht, gibt es eine Investitionslücke von über 40 Milliarden Euro pro Jahr. Die vergleichsweise geringen Verbesserungen im Bildungssystem reichen nicht aus, um das Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft wieder einzulösen.

Weil ein höheres Bildungsniveau nach wie vor schichtabhängig ist?

Weil die deutsche Gesellschaft undurchlässig bleibt, ja. Bildung und beruflicher Erfolg hängen hierzulande stark von der sozialen, aber auch ethnischen Herkunft ab. Das Versprechen vor den umfassenden sogenannten Sozialreformen lautete: Wir gleichen die Unterschiede durch höhere Investitionen in Bildung aus. Aus den Armutskarrieren werden aber bis heute keine Bildungskarrieren.

Mit Verlaub: Ob Lokführer, öffentlicher Dienst oder Chemiebranche - die letzten Lohnabschlüsse waren so hoch wie lange nicht mehr.

Eben: Wie lange nicht mehr. Diese Zuwächse am Ende einer Aufschwungphase markieren noch keine Trendwende. Sie können die jahrelange Stagnation bei den Löhnen nicht kompensieren. Schließlich klettern die Lebenshaltungskosten immer weiter.

Immerhin will die Koalition die Bürger am Aufschwung teilhaben lassen - ob das nun über Steuersenkungen oder die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung passiert.

Das Steuerkonzept der CSU umzusetzen wäre grundfalsch: Wenn der Staat die allgemeinen Steuern senkt, macht er sich arm und wird handlungsunfähig. Kurz vor einer Abschwungphase ist das Irrsinn. Denkbar wäre aber eine Entlastung geringer und mittlerer Einkommen, gegenfinanziert durch eine höhere Belastung hoher Einkommen und Vermögen.

Und niedrigere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die auch die CDU vorschlägt?

Davon halte ich überhaupt nichts. Bei einem Bruttogehalt von 2.500 Euro macht das 3,75 Euro netto. Also viel Lärm um nichts. Wir brauchen das Geld für die Qualifizierung und Weiterbildung von gering qualifizierten Arbeitslosen.

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