Die unsichtbare Macht der grauen Mehrheit

Das Rentenplus bezahlen jüngere Generationen. Forscher warnen: Die Rentner sind vernünftig – aber Politiker haben Angst, sie zu vergrätzen

BERLIN taz ■ Koalitionen mit sicheren Mehrheiten zu schmieden, ist wahnsinnig schwer geworden. Die politische Farbenlehre bei fünf Parteien zwingt zu Puzzlekoalitionen mit lustigen Namen wie Ampel, Schwampel, Jamaika oder allem anderen, was aus Rot, Rosa, Gelb, Grün und Schwarz mischbar ist. Nur eine Gruppe muss sich um die Mehrheit keine Sorgen mehr machen, denn sie hat ab sofort die garantierte absolute Mehrheit in jedem Parlament: Es sind die Alten, die sogenannte grey majority, zu Deutsch: die graue Mehrheit.

In Deutschland gibt es seit dem Jahr 2005 eine neue Mehrheit, so hat es der Kölner Politikwissenschaftler Achim Görres ausgerechnet. Schon 1990 lag der Anteil der über 50-Jährigen bei schwer bezwingbaren 46 Prozent. 2005 entfielen auf die graue Mehrheit dann 24,1 Millionen Wählerstimmen, oder 49,7 Prozent. Das heißt: Ab sofort können die Alten jede Bundestagswahl zu einem Volksentscheid über eine Rentenerhöhung machen. „Das Problem“, sagt Görres, „sind aber nicht die Rentner, sondern die Politiker, die panische Angst davor haben, eine größer werdende Wählergruppe zu vergrätzen.“

So ähnlich dürfte es beim Beschluss über die Rentenerhöhung für die Jahre 2008 und 2009 gelaufen sein. Kommendes Jahr sind Bundestagswahlen, noch dazu solche, bei denen keine Partei auf die Voten der Alten verzichten kann. Das sind vor allem die regierenden Volksparteien Union und SPD. Die Rentenerhöhung für 2008 wäre mit einem Plus von 0,46 Prozent ziemlich mickrig ausgefallen – also wurde sie präventiv erhöht. Jetzt steigt die Rente im Jahr 2008 um 1,1 Prozent und im Wahljahr um 2,03 Prozent.

Die Prozentpünktchen sehen auf den ersten Blick bescheiden aus. In absoluten Zahlen aber macht der Altenaufschlag hohe Ausgaben nötig. Bis 2013 kostet die Rentenerhöhung, je nach Schätzung, zwischen 12 und 13 Milliarden Euro. Finanziert wird dieser Zuschlag auf die Rente durch pauschale Kürzungen bei den anderen Ressorts. Das heißt: Die Zuschüsse zur Rente werden auch direkt von den Jungen genommen. So muss nach jetzigem Stand auch das Bildungsministerium dazu beitragen, etwa im Jahr 2011 einen Mehraufwand von einer Milliarde Euro für die Rentner auszugleichen.

Wenn die Rente steigen soll, ist es an sich gar nicht nötig, diese aus dem Bundeshaushalt zu bezahlen. Dafür ist schließlich die Rentenversicherung da. Der Rentenkompromiss, den die große Koalition heute im Kabinett perfekt machen will, ist allerdings ein wunderbares Beispiel dafür, wie man Lasten auf den Staatshaushalt verschiebt: Darüber, dass die Rente steigen sollte, war schnell Einigkeit zu erzielen – man setzte den sogenannten Riester-Faktor aus. Der war vor wenigen Jahren mühsam eingeführt worden, um den jährlichen Rentenanstieg zu dämpfen.

Nach dem Beschluss jedoch kamen bei der Union Bedenken auf, dass die Beiträge zur Rentenversicherung nicht wie gewünscht fallen könnten. Nun sieht der Kompromiss so aus: Die Renten steigen, die Beiträge fallen – und die Budgets aller Ministerien haften für die Lücke durch Minderausgaben.

Bedeutet dies, dass die graue Mehrheit eine Reform des Sozialstaats für immer unmöglich macht? Nein. In einem neuen Aufsatz kommt Achim Görres zu dem Schluss, dass die Rentner ihre Mehrheit keineswegs als Waffe gegen die Jungen einsetzen. Dennoch beeinflusst die schiere Größe des Stimmenblocks der Rentner Einzelentscheidungen sehr wohl – durch vorauseilendem Gehorsam der Politik. Die erhöht die Rente und holt sich so ein paar schnelle Wählerstimmen. CHRISTIAN FÜLLER