30 Jahre Deutscher Herbst: „Die RAF war nicht ganz so schlicht“

Grundlegenden Antisemitismus könne man den Terroristen auch nicht vorwerfen, meint Journalist Willi Winkler. Über die Beziehung der RAF zu Medien, Intellektuellen und Regierung.

Hätte der Staat 1972 milder auf die Terrorakte der RAF reagiert, wäre eine Entspannung möglich gewesen, so Winkler. Bild: ap

taz: Herr Winkler, die RAF hat sich stets antifaschistisch genannt. War das authentisch – oder nur eine Selbstrechtfertigung?

Der verurteilte, ehemalige RAF-Terrorist Rolf Clemens Wagner hat die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 "aus heutiger Sicht" als richtig bezeichnet. "Manche Ergebnisse unserer Überlegungen bleiben aus heutiger Sicht richtig. Wie die Entscheidung, Hanns Martin Schleyer zu entführen. Der wurde mit seiner

Wagner war wegen Beteiligung an der Ermordung Schleyers zu lebenslanger Haft verurteilt und 2003 nach 24 Jahren vom damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau begnadigt worden. Wagner war 1979 auch am Attentat auf den damaligen NATO-Oberbefehlshaber Alexander Haig beteiligt gewesen, bei dem der US-General und drei Begleiter leicht verletzt wurden. 1993 wurde Wagner deswegen schuldig gesprochen. In der Schweiz wurde er wegen eines Banküberfalls und eines dabei verübten Mordes 1980 ebenfalls verurteilt. DPA

Willi Winkler: Joachim Fest war wie viele der Meinung, dass der Antifaschismus eine nachträgliche, nachgeschobene Begründung der RAF war. Er hätte es besser wissen müssen, weil er die Journalistin Ulrike Meinhof ja in den 60ern gut gekannt hatte. Die Generation von Ulrike Meinhof ist nicht unbeeindruckt von der NS-Zeit aufgewachsen. Das war schlicht unmöglich. Die Verdrängung der NS-Zeit, die Eltern, die keine Antworten wussten, eben das, was das ehemalige NSDAP-Mitglied Hermann Lübbe das „kommunikative Beschweigen“ nannte: das waren prägende Erfahrungen. Die verdrängte NS-Zeit wird Mitte der 60er Jahre durch den Vietnamkrieg und die Nibelungentreue der Bundesregierung zu den USA aktualisiert. Es entstand das Bewusstsein: Der Faschismus kommt wieder. Er war die ganze Zeit latent vorhanden, jetzt wird er akut.

Der Faschismus kommt näher… Das hat Züge einer Dramatisierung, eines theatralischen Effekts…

Ja, es ist typisch journalistisch: wie eine Inszenierung, und die Journalistin Ulrike Meinhof hat daran nicht als einzige mitgewirkt.

Kann man die Geschichte der RAF eigentlich als Mediengeschichte erzählen?

Weitenteils, ja. Ulrike Meinhof war Chefredakteurin von konkret, die damals eine einflussreiche Zeitung war. Das Gründungsmanifest der RAF von Ulrike Meinhof erscheint im Spiegel.

Die Gründungserklärung der RAF war ein Spiegel-Text?

Ja, das kann man so sehen. Natürlich distanziert sich die Redaktion in der Einleitung – aber Tatsache ist, dass Meinhof diesen Text für den Spiegel diktiert hat. Der Stern hatte es übrigens abgelehnt diesen Text zu drucken, weil Meinhof dafür 20000 Mark verlangte, als Spende für Heimkinder.

Welche Rolle spielt der Spiegel für die RAF?

Ich glaube, RAF und Spiegel haben sich gesucht, gefunden und gebraucht. Ein Höhepunkt dieser Beziehung war, dass im Spiegel ein Interview mit den Gefangenen in Stammheim erschien – Fragen und Antworten wurden per Kassiber in das Gefägnis geschmuggelt. Der Spiegel war aktiv an diesem Informationsfluss beteiligt. Später gehen die reuigen RAF-Täter natürlich zum Spiegel, um ihre Beichten abzulegen.

Irritierenderweise gibt es bei den Linksradikalen und auch der RAF, trotz ihres antifaschistische Selbstverständisses, eine antisemitische Unterströmung…

Der RAF einen grundlegenden Antisemitismus vorzuwerfen, ist zwar groß in Mode, aber das führt schon deshalb nicht weiter, weil nicht einmal die RAF so schlicht war, wie sie heute gern verstanden wird.

Aber der Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus 1969 in Berlin und Ulrike Meinhofs Lob der Entführung der israelischen Sportler 1972 in München sind Fakten.

Nach allem, was man weiß, sind für den Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus zwei Gruppen verantwortlich: die Berliner Tupamaros um Dieter Kunzelmann und der Berliner Verfassungsschutz. War der etwa auch antisemitisch? Aber es ist richtig, dass auch die RAF in den Antisemitismus abstürzt. Ulrike Meinhof vergleicht den israelischen Verteidigungsminister Moshe Dayan mit Himmler.

Und warum? Warum übersehen refektierte Intellektuelle, dass sie zufällig die gleiche Feind bekämpfen wie die Nazis: die USA und die Juden? Woher kommt dieser blinde Fleck?

Dass dies moralisch skandalös ist, dass kein denkender Mensch tun darf, was die RAF tat, ist doch klar. Man muss den Zusammenhang sehen. 1967, als Israel im Sechs-Tage-Krieg triumphiert, schreibt der Spiegel jubelnd vom „Blitzkrieg“. In der westdeutschen Republik gab es damals einen scheinheiligen verordneten Philosemitismus, der kompensieren sollte, was man NS-Verarbeitung versäumt hatte. Diese Israel-Solidarität hatte etwas Schlachtbummlerisches, sie war grauslig. In einer Schlüsselszene spricht Günter Grass im Juni 1967 in Berlin vor Studenten und fordert sie auf, sich mit Israel solidarisch zu erklären. Die Studenten sind taub aber dafür, sie wollen nicht um Israel bangen, sondern um ihren Toten trauern, um Benno Ohnesorg. Und sie haben das Gefühl, dass diese Trauer nichts gelten soll in einer Stadt, die von der israelbegeisterten Springer-Presse beherrscht wird.

Es gibt also eine Mechanik: Die Mehrheit ist proisraelisch, die meisten Linksradikalen sind dagegen. Warum aber dauert es in linksterroristischen Kreisen bis 1991, ehe dort, wenigstens bei den Revolutionären Zellen, das Problem überhaupt erkannt wird?

Die RAF war allenfalls zu Beginn zur Reflexion in der Lage. Die Texte werden schnell völlig hermetisch und nach innen gerichtet. Spätestens nach 1972 lebt die RAF völlig losgelöst im Raumschiff. Die deutschen Revolutionäre ließen sich von den Palästinensern ausbilden, die ständig damit drohten, die Juden ins Meer zu treiben. Diese Verbindung zu den Palästinensern entstand aber nicht etwa aus einem gemeinsamen Antisemitismus, sondern weil sich die Linksradikalen Ende der 60er Jahre die Waffenbrüderschaft mit einer Befreiungsbewegung suchten. Die Guerilla in Lateinamerika war zerschlagen, Vietnam war zu weit weg. In Palästina gab es, ein paar Flugstunden entfernt, ein unterdrücktes Volk, und Israel ließ sich da leicht zum Aggressor aufbauen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass sich auch andere mit der arabischen Sache solidarisiert haben. Zehn Jahre zuvor führte der SPD-Mann Wischnewski, Spitzname Ben Wisch, das Konto für die algerische Befreiungsbewegung FLN. Die FLN war auch keine Organisation, der das Schicksal Israels sehr am Herzen gelegen hätte. Dass die RAF antisemitisch und sonst nichts war, das ist viel zu schlicht.

Es geht nicht darum zu sagen: Die RAF war nun alles bösartige gleichzeitig, totalitär, stalinistisch und antisemitisch. Sondern zu verstehen, dass sich schon die Studentenbewegung und Gesellschaft gegenseitig als Nazis verdächtigen.

Ja, der Vergleich war damals allgegenwärtig. Auch Adorno sagte: „Die Studenten haben so ein wenig die Rolle der Juden übernommen.“ Peter Szondi, der Bergen-Belsen überlebt hatte, hört sich wie ein RAF-Theoretiker an, wenn er nach den Übergriffen der Berliner Polizei 1967 schreibt: „Hier wäre das Zusehen entwürdigend.“

Die RAF radikalisiert dieses Bild: Sie inszeniert sich, in der Tradition des 2. Juni 1967, als Opfer des neuen Faschismus. Mit dieser Selbstvictimisierung rekrutiert sie ihren Nachwuchs. Holger Meins, der sich 1974 zu Tode hungert , sieht aus wie ein KZ-Häftling..

Meins sieht, auf dem Foto, das nicht die RAF, sondern der Stern veröffentlichte, aufgebahrt eher aus wie ein Mönch. Das ist der katholische Rest – der Märtyrer, der für uns gestorben ist und dem wir es nachtun müssen. Hans Joachim Klein hat genau das beschrieben als er sagte: Ich brauchtE dieses Bild nur ansehen, dann habe ich die Waffe in die Hand genommen.

Jan Philip Reemtsma meint, dass für die RAF ein Motiv fundamental ist: Die Machtausübung über Gewalt. Erklärt diese These die RAF?

Nein, ohne moralischen Furor wäre die RAF nie gegründet worden. Dieser Furor hatte mit dem Vietnamkrieg zu tun. Niemand hat die USA so geliebt wie die Westdeutschen, ohne die abgrundtiefe Enttäuschung über die USA wegen des Vietnamkrieges kann man weder 68 noch die RAF verstehen.

Gab es eigentlich wirklich RAF-Sympathsianten? Oder war das nur eine Erfindung der Reaktion, um die Linke zu denunzieren?

Beides. Die RAF führte aus, wovon damals eine eher kleine Gruppe träumte, die selbst niemals zur Waffe.

INTERVIEW STEFAN REINECKE

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