100.Geburtstag von Sebastian Haffner: Der Analytiker der deutschen Zustände

Als Autor von "Anmerkungen über Hitler" wurde der politische Journalist Haffner zum bedeutenden Populärhistoriker - dabei war ihm Schreiben kaum mehr als ein Rettungsring.

Richtig, dieser Mann hat "Anmerkungen über Hitler" geschrieben. Sebastian Haffner heisst er aber nicht. Bild: dpa

Sebastian Haffner ist ein Pseudonym. Als er es für sein erstes Buch mit dem Titel "Germany: Jekyll & Hyde" auswählte, 1940 im englischen Exil, hoffte er, damit seine Verwandten in Deutschland zu schützen. Er ist dieses Pseudonym nicht mehr losgeworden; kaum jemand kennt seinen richtigen Namen: Raimund Pretzel.

Raimund Pretzel, heute vor 100 Jahren in Berlin-Moabit geboren, entschied sich für Jura als bürgerlichen Beruf, nebenbei - oder vielleicht doch hauptsächlich? - wollte er schreiben. Romane. Obwohl an Geschichte interessiert, dachte er nicht daran, Historiker zu werden. Zwischen den Kriegen war dieses Fach in Deutschland eine weitgehend revanchistische Veranstaltung, kurz etikettiert mit den Begriffen Kriegslüge und Dolchstoßlegende.

Stellten wir uns kurz vor, wir würden heute vor einhundert Jahren geboren, in eine bildungsbürgerliche Berliner Familie, als mit Abstand jüngstes von vier Kindern. Alles flöge uns zu: Politik, Geschichte, Literatur, Musik. Die Familie ein Kammerorchester, wir spielten Violine. Vor uns läge, kurz nach der Einschulung und ohne dass wir es wüssten, der Erste Weltkrieg, der uns begeisterte; die Revolution von 1918, die vor unseren Augen verblutete; Kapp-Putsch, Inflation; die Weimarer Republik, die vor unseren Augen ausblutete; der Aufstieg der Nazis.

Eine Flucht nach England, dort Gründung einer Familie mit der Frau, wegen der er Deutschland verlassen hatte. Die Ausbildung ist wertlos - andere Sprache, anderes Rechtssystem. Was bleibt? Schreiben. Schreiben, um zu überleben. In dieser verzweifelten Lage entstand die "Geschichte eines Deutschen", jenes sehr persönliche Buch, das, vor einigen Jahren, posthum zu einem seiner größten Erfolge geriet.

Posthum, weil er, "von einer plötzlichen Eingebung gepackt", die Arbeit an diesem Buch plötzlich abbrach, um ein politischeres Buch zu schreiben, eben "Germany: Jekyll & Hyde". Da ihn sein erster Versuch, den Engländern das Land, aus dem er geflohen war, zu beschreiben, später nicht mehr interessierte, wurde es erst nach seinem Tod im Schreibtisch seiner Dahlemer Wohnung entdeckt.

Haffners Beschreibung der deutschen Zustände unter Hitler erregte einige Aufmerksamkeit; Churchill machte es im Kriegskabinett zur Pflichtlektüre. Nur: Haffner selbst saß zu dieser Zeit in einem Lager in Südengland, interniert als feindlicher Ausländer. Seinem Verleger Frederic Warberg gelang es, ihn freizubekommen. Kurz darauf sollten sämtliche Insassen des Lagers nach Australien deportiert werden, doch wurde das Schiff nördlich von Großbritannien von deutschen U-Booten torpediert, etliche Passagiere starben. Haffner ist sich sicher, dass er, unsportlich und in schlechter gesundheitlicher Verfassung, ebenfalls ertrunken wäre.

So rettete ihm sein Buch das Leben. Darüber hinaus verschaffte es ihm die Möglichkeit, mit anderen deutschen Emigranten eine deutschsprachige Exilantenzeitung in London zu gründen. So wurde aus dem verhinderten Romancier und nunmehr berufslosen Juristen im Exil ein politischer Journalist, auf den schließlich der Herausgeber des Observer, David Astor, aufmerksam wurde.

Von da an musste Haffner in englischer Sprache schreiben, was ihm anfangs nicht geringe Schwierigkeiten bereitete. Der ewigen Korrekturen leid, las er sich jeden Satz, den er schrieb, laut vor und fragte sich: Klingt das wie richtiges Englisch? Bis zu seinem Tod war Haffner ein wenig stolz darauf, sich "durch Autosuggestion", wie er es nannte, englisches Schreiben beigebracht zu haben.

War Haffners Mission in England nach dem Sieg über Hitlerdeutschland erfüllt? Mochte er sich nicht mehr David Astor, der nach Kriegsende in die Redaktionsarbeit zurückkehrte, unterordnen, nachdem er jahrelang alle Freiheiten genossen hatte und so heimlicher Chefredakteur des Blattes geworden war? Trieb es ihn zurück nach Deutschland, weil man sowieso nicht "richtiger Engländer werden kann, wenn man nicht dort geboren ist"? Es wird eine Mischung aus alledem gewesen sein, als er 1954 mit Kind und Kegel nach Deutschland zurückkehrte, zunächst noch als britischer Journalist: Deutschland-Korrespondent des Observer. Ein zweites Standbein hatte er bald bei der Welt.

Zwei Wochen vor dem Mauerbau überwarf er sich mit dem Observer, weil der ihm nicht kalt genug erschien im ideologischen Krieg mit dem Osten. Umso überraschender erschien vielen Beobachtern sein Wechsel zur Illustrierten Stern. In dieser Zeit entstand sein Ruf, Opportunist zu sein. Ihn kümmerte das nicht; er war pragmatisch. Im Mauerbau erkannte er die Resignation des Ostens, eine defensive Maßnahme. Nun, da die Verhältnisse klar waren, müsste man mit denen reden. Mit provokanten Artikeln bereitete er vor, was später Regierungslinie unter Willy Brandt wurde - "hilfreichen politischen Flankenschutz" nannte Egon Bahr 2001 diese Kolumnen Haffners.

Aus dem Kalten Krieger Haffner schlüpfte plötzlich wieder der Antifaschist hervor. Es ging ihm um Deutschland und um die Bewahrung der noch etwas kümmerlichen Pflanze der Demokratie in diesem Land. Die Spiegel-Affäre, in die er beherzt und wirkungsvoll auf der Seite Augsteins eingriff, tat ihr Übriges.

Die Sechzigerjahre waren, zumindest für das deutsche Publikum, Haffners produktivste Zeit. Seine wichtigste Plattform waren seine vielgelesenen Kolumnen im Stern. Früh vertrat er dort Positionen der Außerparlamentarischen Opposition, bevor es diese gab. Schon 1965, ein Jahr nach dem Beginn der offenen amerikanischen Aggression in Vietnam, nannte Haffner den damaligen US-Präsidenten einen Kriegsverbrecher. Die Exzesse der Berliner Polizei am 2. Juni 1967 beschrieb er als einen systematischen, kaltblütig geplanten Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten.

Seine Sympathie für Willy Brandt hinderte Haffner nicht daran, die SPD für ihre Zustimmung zu den Notstandsgesetzen scharf zu kritisieren; aber auch die historische Rolle der SPD unterzog er in einer mehrteiligen Serie im Stern, die, wie fast alle seiner historischen Serien, später als Buch erschien, einer kritischen Inspektion. "Der Verrat" der SPD an der Revolution von 1918 empörte Haffner bis an sein Lebensende.

Viel Freunde hat er sich mit diesem Buch nicht gemacht; konservative Laudatoren sehen in diesem Buch einen schrecklichen Schandfleck in Haffners Lebenswerk. Wie kurzsichtig! Hätte 1918, so Haffner, die SPD nicht einer bürgerlich-militaristischen Demokratie, in der sie zwangsläufig scheitern musste, sondern einer - wenn man so will - Arbeiter-Demokratie Vorschub geleistet, dann wäre auch den deutschen Konservativen einiges erspart geblieben - auch wenn es ihre Vormachtstellung gekostet hätte. Denn die Revolution von 1918/1919 bot "die beste und, im historischen Rückblick, wohl die einzige Möglichkeit das alles zu verhindern: Hitler, den Zweiten Weltkrieg, die zweite Niederlage, die Teilung".

Auch die Grünen, hätte man ihnen dieses Buch in die Wiege gelegt, wären später weniger erstaunt gewesen über den beinharten Politikstil der ehemals proletarischen Partei, mit der das Koalieren so unendlich schwer war. Holger Börners Dachlattendrohung gegen die Grünen in den Achtzigern war nichts anderes als die rhetorische Fortsetzung der harten, ja brutalen Vorgehensweise der SPD gegen links in den Anfängen der Weimarer Republik. Selbst wenn man die Darstellung Haffners über die Rolle der SPD als einer "Partei gegen links" nicht teilen mag, so bleibt doch Haffners Buch über die deutsche Revolution eines der lebendigsten und aufschlussreichsten Geschichtsbücher überhaupt.

Nachdem Haffner Mitte der 70er-Jahre beim Stern als Kolumnist recht rüde aussortiert worden war - das zwangsläufige Schicksal jedes Kolumnisten -, begann seine zweite Karriere als Buchautor. Seine "Anmerkungen zu Hitler", ein Buch, von dem zumindest jeder den Titel kennt, hat ihm viel, vor allem konservative Anerkennung eingetragen.

In diesem Buch versucht Haffner nicht nur, die Deutschen mit sich selbst zu versöhnen: Haffner, der Emigrant, geht mit ausgestreckter Hand auf die Deutschen zu: Ja, es sei schwer gewesen, der Verführung Hitlers, insbesondere seinen frühen Erfolgen, zu widerstehen. Konservative lesen so etwas gern. Als 1988 der damalige Bundestagspräsident Jenninger anlässlich des 50. Jahrestages der Nazi-Pogrome im Bundestag vor jüdischen Ehrengästen eine Rede hielt, die im Eklat unterging, bediente Jenninger sich teilweise der Sichtweise Haffners aus den Anmerkungen, ohne den Ort, den Anlass und die Zusammensetzung des Publikums zu bedenken. Haffner merkte dazu an, dass man besser "am frischen Grab des Ermordeten nicht über die interessanten Seiten seines Mörders" sprechen sollte.

Den Fall der Mauer genau ein Jahr später empfand Haffner geradezu als persönliche Schmach, weil er nichts dergleichen vorhergesehen hatte. "Eine Wiedervereinigung, in der die beiden deutschen Staaten, so wie sie nun einmal sind und geworden sind, zu einem funktionierenden Staat verschmolzen würden, ist nicht vorstellbar, nicht einmal theoretisch." Aber wer hätte schon - 1987 - diesem Satz widersprochen?

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