Das Ende der Kabine

Im Zeitalter der Internetpornografie kämpfen kleine Sexkinos ums Überleben – immer mehr müssen schließen. Sind Erotikkino und Videokabine bald Geschichte?

„Abnormitäten- und Biograph-Theater“ hieß das erste Sexkino Berlins mit 158 Sitzplätzen, 1899 in der Münzstraße eröffnet. Sexfilme kamen damals noch ohne Sex aus – dafür aber mit Striptease. Während der Goldenen Zwanziger blühte der echte Porno auf, bevor er in den 30ern wieder einging. Denn die klassischen Filmgenres entwickelten sich in Hollywood weiter, doch die Sexfilme blieben amateurhaft – das war damals noch kein Stilelement. In den 40ern und 50ern bestimmten triste Arztfilme die Leinwand. Dann kamen die ersten FKK-Filme aus Schweden, die „Nudies“. Darin warben junge Mädchen für die Vorzüge der Freikörperkultur. In den 60ern folgte der Durchbruch von Aufklärungsfilmen in Deutschland, darunter Oswalt Kolles „Dein Mann, das unbekannte Wesen“. Erst Anfang der 70er wurden die Pornofilme experimenteller („Deep Throat“). Mit der Lockerung der Gesetze kam es zu einem Boom des Sexfilms in Deutschland. In den 80ern dominierte dann der kommerzielle Porno, und der Videomarkt expandierte. Zugleich verödeten die Erotikkinos: Denn mit dem Aufkommen von VHS, dann DVD und schließlich Porno 2.0 holen sich immer mehr Menschen ihr Sexkino nach Hause. LH

VON LYDIA HARDER

Es war sein erstes und letztes Rendezvous. Als Robert De Niro seine Angebetete ins Pornokino einlud, war der New Yorker Times Square noch skandalumwittert. Die Dame musste ganz schnell gehen, und Robert De Niro war wieder allein, fuhr Rotlichtpublikum im Taxi zu Strip-Lokalen und Varietés.

Als Scorseses „Taxi Driver“ 1976 in die Kinos kam, liefen noch ganz andere Streifen an der berüchtigten Kreuzung von 42. Straße und Broadway. Heute ist der Times Square eine saubere Erlebnislandschaft. Heute fragt man sich, wer überhaupt noch in Sexkinos geht. Weil es im Internet alles gibt, was man braucht, kostenlos. Die Glanzzeiten der Lichtspieltheater unkeuschen Inhalts sind längst vorbei, auch in Berlin.

Im Kino „Erotica“ gegenüber der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz sitzt man in Raumkapseln aus dunkelrotem Plastik. So zumindest fühlt es sich an, in einer der Videokabinen Platz zu nehmen. Die Sitzfläche ist mit schwarzem Kunstleder gepolstert, an der Lehne ein paar Knöpfe. Wie auf der Brücke im Raumschiff Enterprise kann man dort den Kurs angeben – und durch eine Galaxie von 300 Pornofilmen steuern. An der Wand hängt eine Rolle Zewa-Papiertücher.

Mario, 40, früher Tae-Bo-Trainer und noch immer sehr kräftig, übernahm 1999 das Geschäft mit Magazinen und Spielzeugen und mit diskreten Nebenräumen, von denen fünf Videokabinen abgehen, sowie ein Kino mit etwa 30 Sitzen. Heute sind alle Räume blankgeputzt, nichts liegt herum. Während Mario Kunden bedient, zählt er eine neue Ladung Dildos durch und legt die nächste DVD für das Kino ein. Die flimmert immer auf dem Flachbildschirm über der Kasse. Lenkt ihn das nicht von der Arbeit ab? Mario schaltet zu Demonstrationszwecken den Bildschirm aus: „So. Da fehlt da doch wat, oder?“ Manch einer kommt laut Mario nur in den Laden, um verstohlene Blicke auf das Filmchen am Tresen zu werfen – und tut dabei so, als studiere er die Regalinhalte. Immerhin kommen überhaupt noch Leute.

„Nach der Wende warn wir alle neugierig“, sagt der Ostberliner. Im Westen der Stadt flackerte in den 80ern ein Rotlichtkino neben dem anderen, in Ostberlin durften sie erst nach dem Mauerfall aufmachen. Hier war es schwierig, Lizenzen zu bekommen, während im Westen noch Altzulassungen gelten. Trotzdem gab es einen kleinen Boom im Osten. „Erotica“ öffnete 1991. Nun ist das Pornokino eines der letzten in der Gegend. Denn Berlin-Mitte soll das neue Sauberviertel der Stadt werden, eine schmuddelfreie Zone: aufräumen wie am Times Square. Rot sollen in Zukunft nur noch wenige Ecken der Stadt leuchten, zum Beispiel am Stuttgarter Platz in Westberlin.

Als Mario im gleichen Haus zusätzliche Räume für Videokabinen anmieten wollte, wies der Senat ihn ab. Dabei gibt es gute Kunden in der Nachbarschaft, und auch die Nähe zur Volksbühne ist ein Bonus. Theater und Rotlicht haben sich schon immer gegenseitig angezogen, ins „Erotica“ kamen auch Berliner Schauspielstars. Und ein berühmter deutscher Rockmusiker, der sich auch auf der Reeperbahn gut auskennt.

Doch es kommt immer weniger Laufkundschaft. Auf dem Internetportal youporn.com ist die Auswahl groß – und wenn man will, bleibt kein Wunsch offen. Seit 2001 mussten viele junge Erotik-Kinos wieder schließen. Einen Block weiter machte einer von Marios letzten Konkurrenten dicht. Auch im „Erotica“ ging nicht nur der Zewa-Verbrauch zurück. Bei den Hochglanzmagazinen stellt Mario seit etwa 2001 Einbußen von bis zu 40 Prozent fest. Kino und Videokabinen verwaisen allmählich. Die Mehrzahl der kleinen Kinos in Berlin gibt an, mindestens 30 Prozent weniger Umsatz zu machen. Und auch im Erotikgeschäft verschlingen die großen Fische die kleinen: „World of Sex“, „Big Sexyland“ und „Beate Uhse“ beherrschen den Markt.

Das größte Vorurteil gegenüber Rotlichtetablissements sei es, dass immer Geld fließe, so Mario. Vermieter verlangen oft die doppelte Miete. Und auch die Anzeigenpreise steigen. „Die größten Zuhälter der Stadt“ sind die Zeitungen: So zumindest sieht es Holger Rogge, Chef des Internetportals preussensex.de und einer Agentur, die Berliner Boulevardblätter mit Sexannoncen beliefert. Als das Internet kam, befürchtete er einen Einbruch. Aber die Nachfrage blieb. „Die älteren Generationen sind eher zurückhaltend, was Internetsex angeht“, so Rogge, über zwei Meter groß, ein wahrer Hüne. Erst wenn diese wegstürben, werde die Branche zusammenbrechen – in einer alternden Gesellschaft nur eine ferne Bedrohung.

So manches erotische Lichtspieltheater rutscht im Kampf um die letzten Kunden ins Schmuddelige ab. Versuche, dem Internetzeitalter standzuhalten, wirken eher hilflos. Auf Rogges Pornoportal annonciert auch „Heidi’s Kuschelecke“. In diesem Sexkino mit angeschlossenem Freudenhaus verwöhnen „viele unprofessionelle Damen aus aller Welt den anspruchsvollen Herrn“, heißt es auf der Seite. Unprofessionell wirkt vor allem der Internetauftritt. Im Charlottenburger Kino selbst gibt es weit und breit keine Heidi. Nur verstaubte Dildos, die von der Decke baumeln. Und einen älteren Herrn mit vielen Tattoos und sehr glasigen Augen, der die Fernseher im ranzigen Ambiente vorführt und erklärt, dass die unprofessionellen Damen eben „Hausfrauen“ seien, ergo authentisch.

„Tina’s Oase“ reagiert auf ganz pragmatische Art auf die schwindende Schaulust. Das Erotikkino lockt auch den weniger solventen Besucher und erweitert sein Angebot. „Hartz-IV-Empfänger poppen bei Vorlage des Bescheides für zehn Euro“, heißt es dort prosaisch. Der Besitzer sitzt rauchend am Tresen und schaut einer älteren Tina beim Gläserspülen zu: „Die Leute kommen immer noch zahlreich. Auch ganz junge Männer.“ Denen aber geht es bestimmt nicht um geruhsame Kinostunden mit Filmen wie „Die Prinzessin auf der Eichel“ und „Strip langsam“.

Die Jungen gehen in Puffs, bestätigt auch Mario. Und weil „Erotica“ eben kein Bordell sei, tauchen hier eher Männer ab dreißig auf. Die Tageskarte kostet 7,50 Euro, die Videokabine schlappe 50 Cent für zwei Minuten. Man kommt in der Mittagspause, vor oder nach der Arbeit. Schnell soll es gehen, diskret und sauber. Manche sitzen auch für zwei, drei Stunden im Kinosaal. Das „Erotica“ hat unauffällige Besucher, sie kennen die Wege im Laden und das Programm. Vom Studenten bis zum Schlipsträger ist alles dabei, was Mitte bevölkert. Sogar Frauen, aber nur sehr selten.

Verstaubte Dildos hängen von der Decke, und Hartz-IV-Empfänger poppen billiger Die gesamte Pornofilmindustrie macht mehr Umsatz als Hollywood

Ein iranisches Pärchen lässt sich von Mario die Funktionsweise eines Gummidildos erklären. Er im Anzug, sie mit Wollmütze auf den angegrauten Haaren, Bildungsreisende. Mario ist ausländische Kunden gewohnt. „Yes, it’s waterproof“, nickt er. Dann wollen die Iraner mehr. Was die Live-Show sei, wollen sie wissen. Mario ruft eine blonde Tänzerin in Jeans und Strickpulli: „Yvonne, kannst du den beiden mal zeigen, wat du in der Live-Show so allet machst?“ Nach ein paar Minuten kommen die Iraner mit enttäuschten Mienen zurück. Nur eine Frau auf der Bühne? Wo bitte kann man eine Live-Show mit Geschlechtsakt sehen? Da weiß selbst Mario nicht weiter, das sei verboten. Die Iraner legen ihren Reiseführer auf den Tisch und zeigen beharrlich auf eine Stelle. „No, that’s just a nightclub“, klärt Mario auf.

Die ersten Sexkinos gab es 1968 in Dänemark, in den 70ern folgten die Vereinigten Staaten. Dort hatten Pornokinos vor allem durch legendäre Werke wie „Deep Throat“ ihre Blütezeit. Heute macht die Pornofilmindustrie mehr Umsatz als Hollywood. In den Regalen von „Erotica“ stapeln sich die neuesten Filme der Produktionsfirma Hustler, die „Desperate Housewhores“ zum Beispiel. Auch deutsche Produktionen laufen gut, etwa die Serie „Ich bin jung und brauche das Geld“ oder die Streifen der Pornodarstellerin „Vivian Schmitt“.

Mario bedient jeden Kunden mit der gleichen Geduld. Nur draußen reißt ihm manchmal der Geduldsfaden. Wenn er seinen Sohn in der Kita abholt und die Erzieherin sagt: „Ja, so was wie Sie muss es auch geben, denn sonst würden die ganzen Perversen auf der Straße herumlaufen und vergewaltigen.“ Da schnaubt er: „Ick hab nix für Perverse, also mit Tieren oder Verjewaltigung oder so wat.“ Seine Freundin hatte anfangs Zweifel, als Mario den Laden übernahm. Sie ließ sich aber bald überzeugen. „Durch mein Fachwissen!“

Als das Internet florierte, sanierte Mario das Kino, um mit Porno 2.0 mitzuhalten. Seitdem kann man in den Videokabinen per Tastenklick zwischen den Genres wechseln, etwa „Haare & Nylons“ oder „Amateure“. In die Kabinen kann man ohne Anmeldung am Tresen schlüpfen, Geld rein und Tür zu. Da sinkt die Hemmschwelle, denn wer aus dem Laden kommt, kann auch „bloß“ in den Magazinen oder Spielzeugen gestöbert haben. Letztere sind immer gefragt, gerade zu Weihnachten, Ostern oder zum Valentins- tag.

Auch wenn das Geld nicht mehr strömt wie früher, wird das klassische Pornokino sicher noch eine Weile Bestand haben. Denn mit einem erotischen Entspannungserlebnis im Kinoambiente können es der heimische Schreibtisch und das Internet meist nicht aufnehmen. Viele suchen den rot beleuchteten Saal mit schmuddeligen Ecken aus ganz nostalgischen Gründen auf. Als Mario die Kinosessel erneuerte, nahmen etliche Besucher die klinische Sauberkeit nicht an. Die Atmosphäre war zerstört, das Verruchte fehlte. „Erst als die Sessel wieder einjesessen und einjeschmuddelt waren, kamen die Leute wieder.“