„Politik in den USA verspricht Erlösung“

Clintons Träne, Obamas Fanclubs: Entscheiden Emotionen über die US-Präsidentschaft? Historikerin Ute Frevert über Gefühle in der Politik

UTE FREVERT, Jahrgang 1954, Historikerin, leitet, nach Lehr- und Studienstationen, u. a. in Konstanz, Bielefeld und Yale, USA, seit Anfang 2008 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin den neuen Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“.

INTERVIEW JAN FEDDERSEN
UND SUSANNE LANG

taz: Frau Frevert, kreischende Teenager, Fanclubs und Tränen – diese Bilder dominieren die US-Vorwahlen. Wird letztlich das Gefühl über die Präsidentschaft entscheiden?

Ute Frevert: Zumindest spielt das Gefühl eine erheblich größere Rolle als bei europäischen Wählern. Gerade die amerikanischen Präsidentschaftswahlen sind absolut personalisiert. Es geht darum, ob die Kandidaten in der Lage sind, möglichst viele Wähler zu begeistern und zu binden. Es geht um Charisma. Ich würde zwar nicht behaupten wollen, dass ein parteibasiertes System wie das deutsche Gefühle ganz „außen vor“ lässt. Aber es ist sehr viel leichter, auf einer emotionalen Ebene zu agieren, wenn es sich um Personen handelt, die sich relativ unabhängig von politischer Programmatik präsentieren können.

Das heißt, die Botschaft ist nicht unwichtig, zentral aber bleibt die Frage, wer diese Botschaft wie transportieren kann?

Es geht um dieses Moment des überspringenden Funkens, der sich dann auch konkret in Wahlentscheidungen ausdrückt. Da spielen Parteimaschinerien jedoch kaum eine Rolle. Dieses Moment zu erzeugen bleibt die Hauptaufgabe der Kandidaten und ihrer Spin-Doktoren, die Tag für Tag beobachten, ob die Ansprache funktioniert. Schaffen wir es, zu begeistern und die Begeisterung auf Dauer zu stellen?

Sind menschliche Gefühle denn wirklich steuerbar?

Durchaus, und vor allem in der Politik. Von „ansteckenden Gefühlen“ spricht man nicht nur im Sportstadion oder bei Popkonzerten, sondern auch bei Wahlversammlungen und Demonstrationen. Gute Redner sind Meister des Gefühlsmanagements. Das ist im Übrigen keine Erfahrung des 21. oder 20. Jahrhunderts, sondern reicht bis zu Aristoteles zurück. Er hat seinen Schülern erklärt, wie sie zu reden haben, um bestimmte Gefühle hervorzurufen, die dann wiederum spezifische Handlungen nach sich ziehen – das ist alte Rhetorikkunst, die in der Politik schon immer eine große Rolle gespielt hat. Im Rahmen der Massenpolitik, wie wir sie seit dem späten 19. Jahrhundert kennen, wird sie nur virulenter.

Geht es heute noch darum, Massen anzusprechen oder die Individuen, die gemeinsam die Masse ergeben?

Natürlich möchte niemand als Teil einer „Masse“ angesprochen werden, aber auch nicht als isoliertes Individuum. Politik in Demokratien mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht muss immer die Balance halten: Einerseits adressiert sie kollektive Befindlichkeiten, andererseits appelliert sie an Kopf und Herz des Einzelnen, an seine/ihre Interessen und Gefühle.

Welche Gefühle hat George W. Bush denn angesprochen?

Der Noch-Präsident hat mit einem starken emotionalen Bekenntnis begonnen: zum „compassionate conservatism“, einem religiös eingefärbten Konservatismus, der auf „Mitleiden“ und Empathie setzte. Damit versuchte er, die Negativaura der Republikaner aufzulösen, die mit Big Business und Shareholder Value identifiziert wurde. Bushs innenpolitische Botschaft lautete: Seht her, ich kümmere mich um alle Amerikaner, nicht nur um die Superreichen (deren Steuern wir senken), sondern auch um diejenigen, die unser Mitleid verdienen.

Bis das Pathos der Landesverteidigung die Empathie abgelöst hat?

Bushs Außenpolitik basierte nach den Anschlägen vom 11. September ebenfalls auf einer emotionalisierenden, polarisierenden Strategie: hier die Guten, dort die Bösen. Die innenpolitischen Probleme kehrten eigentlich erst durch die Einbrüche im Immobilienmarkt zurück auf die Agenda. Seitdem sind die ökonomischen und existenziellen Ängste vieler Amerikaner dramatisch gewachsen.

Sind Ängste, also negativ konnotierte Gefühle, ein stärkerer politischer Motor?

Ja, das ist interessant zu sehen, wie Angst statt Glück oder Scham statt Stolz eine größere Aktivität entfalten und politisch mobilisieren. Auf Stolz kann man sich eher ausruhen, Angst löst Handlungsbedarf aus.

Weshalb gewinnt eine Kandidatin wie Hillary Clinton dann nicht sofort, die auf ihre Erfahrung setzt, Probleme lösen und Ängste nehmen zu können?

Hillary Clinton hat möglicherweise zu stark auf ihre Erfahrung gesetzt und das messianische, Erlösung versprechende Element zu wenig berücksichtigt. Womit John McCain Erfolg hat, wird ihr zum Verhängnis – weil sie mit jemandem konkurriert, der die Hoffnungen vieler Amerikaner auf einen neuen Anfang, auf radikales Umsteuern offenbar sehr viel besser bedient. Frau Clintons Situation ist wahrlich nicht beneidenswert. Ihr werden laufend Beine gestellt, gerade auf emotionalem Gebiet

Die Frauenfrage?

Sie darf einerseits nicht zu emotional wirken, weil ihr sofort vorgeworfen würde, sie sei zu sehr Frau und damit instabil und verführbar. Wenn sie andererseits ihre Härte, ihre Disziplin und Selbstkontrolle zu stark vorführt, heißt es: Die ist ja nur eine Politmaschine und kein Mensch mehr …

dem es nur um die eigene Karriere geht?

Ja, was immer sie tut, wird nicht als authentisch wahrgenommen. Sie steht permanent unter Verdacht, und das Misstrauen ist groß. Eigentlich ist es da erstaunlich, dass sie es in den Vorwahlen überhaupt so weit gebracht hat. Ihre Handlungsmacht, ihre Kraft, sich selbst neu zu erfinden, war relativ begrenzt.

Wird sie deshalb richtiggehend gehasst?

Das hat eine lange – und paradoxe – Geschichte. Schon damals beim Affären-Skandal ihres Mannes mit der Praktikantin Monica Lewinsky wurde ihr vorgeworfen, dass sie zu strategisch reagiere. Denn eine richtige Frau wäre doch fürchterlich eifersüchtig geworden und hätte diesen Mann in die Wüste geschickt. Dass sie dies nicht getan hat, wurde ihr als Zeichen dafür ausgelegt, dass sie ihre Ehe als reine Interessengemeinschaft führe …

wobei sie den amerikanischen Klassiker bedient hat: „Stand by your man“ …

Genau – aber zugleich immer mit diesem Verdacht, dass sie es ja gar nicht ehrlich meint. Außerdem schlägt ihr viel Abneigung entgegen, weil sie klare Positionen gesetzt hat, etwa beim Thema Krankenversicherung. Das war ihr Projekt, das sie mit Zustimmung ihres Mannes unter ihre Fittiche genommen hat. Aus dieser Zeit rühren die Animositäten, vor allem seitens der Rechten. Das ist eine Frau, die uns sozusagen hinterrücks den Sozialismus ins Land trägt, mit einer allgemeinen Krankenversicherung, die überhaupt nicht in der Tradition eines Landes steht, in dem jeder seines Glückes Schmied ist.

Das klingt ja tragisch: Sie, die alles kann, kann nichts richtig machen, obwohl sie es mit einem Konkurrenten zu tun hat, der seinem Bubencharme zum Trotz wenig Erfahrung hat.

Obama hat die WählerInnen erfolgreich emotionalisiert: „Change“, das mobilisiert vor allem die Jüngeren, die sich nach Veränderung sehnen und sich bei Obama daher gut aufgehoben fühlen. Clinton dagegen ist zu sehr mit dem Washingtoner Establishment verbunden, vielleicht eben schon mit zu viel Wassern gewaschen. Denken Sie nur an ihren Positionswechsel in Sachen Irakkrieg. Obama steht in dieser Hinsicht, im Sinne von Authentizität oder Widerspruchsfreiheit der eigenen Person, einfach besser, unbeschriebener da. Da er noch nicht viel gemacht hat, konnte er auch noch nicht viel falsch machen.

War die Unbeschriebenheit auch ein Vorteil für Angela Merkel, der ja zunächst als Frau die Regierungskompetenz angezweifelt wurde, die sich aber durchsetzen konnte?

Ich glaube, ja. Zwischen all diesen starken, ehrgeizigen Männern erschien sie als „weichste“, zugleich aber auch sachlichste, unemotionalste.

Viele sprechen bereits von einer Amerikanisierung der Wahlkämpfe auch in Deutschland. Ist hier tatsächlich eine derart starke Emotionalisierung denkbar?

Das bezweifle ich. Deutsche Politik ist aus historischen Gründen verständlicherweise stark entemotionalisiert. Man kann sich keinen größeren Kontrast vorstellen als zwischen dieser Führerpersönlichkeit Hitlers, die ihm ja auch angetragen worden ist, und dem persönlich distanzierten Politikstil eines Adenauer, Heuss, Erhardt oder Kiesinger. Dementsprechend sind die Erwartungen an Politiker: Sie sollen nicht begeistern, sondern ihre Sache gut machen, einen klaren Kopf behalten und vor allem keine Visionen haben

sonst sollten sie bekanntlich frei nach Altkanzler Helmut Schmidt zum Arzt gehen …

Genau um Visionen geht es aber in der amerikanische Kultur, die sehr viel messianischer und missionarischer ist. Es geht immer um die Fragen: Was ist das gute Leben, wohin wollen wir und für welche Werte stehen wir? Erlösung durch Politik, so lautet das Credo seit der Revolution. In der deutschen Politik gibt es bislang keinen Bedarf an Charismatikern, hier geht es um Konsensfindung durch ein Parteiensystem.

Hat sich das aber nicht auch geändert?

Wenn man sich die Personen anschaut, die diese Parteimaschinen heute hervorbringen, sehe ich wenig Änderung. Charismatiker sind nicht darunter, Menschen mit Biografie äußerst selten. Was sich allerdings tatsächlich ändert, ist die soziale Basis von Politik, die Struktur der sozial-moralischen Milieus. Sie lösen sich auf, und das, was hundert Jahre lang galt, ist nicht mehr: dass Menschen in politische Gesinnungsgemeinschaften hineinsozialisiert werden. Die Milieus brechen auf, Wechselwähler gewinnen an Bedeutung. In dieser Umbruchsituation werden Politikerpersönlichkeiten mitsamt ihren emotionalen Strategien wichtiger.