Leben als Projekt

Frisst der Kapitalismus seine Kinder? Nein, er verstrickt sie in Projekte. Glücklich macht das trotzdem nicht. Weder bei der Arbeit noch im Privatleben

VON LUC BOLTANSKI

In Europa waren die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte durch die Suche nach einem politischen Projekt geprägt, das die kapitalistische Umstrukturierung der sozialen Beziehungen eindämmen sollte. Die Protestbewegung des Mai 1968 stellt in gewisser Hinsicht den Höhepunkt der damit verbundenen Kritik am Kapitalismus dar. Die an die Tradition der Arbeiterbewegung anschließende Sozialkritik war aber keineswegs die einzige Form der Kritik, die diese Protestbewegung anfachte. Mit ihr betrat auch eine ganz andere Form der Kritik die gesellschaftliche Bühne, die ich als Künstlerkritik bezeichnen möchte, um ihre Verankerung im Milieu der Boheme zum Ausdruck zu bringen.

Während die Sozialkritik primär auf die Lösung sozioökonomischer Probleme durch Verstaatlichung und Umverteilung zielte, kreiste die Künstlerkritik um ein Ideal der individuellen Autonomie, der Selbstverwirklichung und der Kreativität, das im Widerspruch zu allen Formen hierarchischer Machtverhältnisse und sozialer Kontrolle steht. Aus Sicht der Verteidiger des Kapitalismus bot diese zweite Form der Kritik allerdings den Vorteil, durch gewisse Umdeutungen und Glättungen mit einem liberal gemäßigten Kapitalismus durchaus vereinbar zu sein.

In der Welt der Unternehmen und der Arbeit ist diese Umdeutung größtenteils durch die Vordenker neuer Formen des Managements geleistet worden, die einen neuen Geist des Kapitalismus propagierten, der auch die Erfahrungen der Sechziger- und Siebzigerjahre integrieren sollte. Diese Form der Krisenbewältigung war gerade dort erfolgreich, wo die Ansprüche der Sozialkritik abgeblockt worden waren. An die Stelle einer grundsätzlichen Kritik am Arbeitsverhältnis trat die panische Angst, überhaupt keine dauerhafte Arbeit mehr zu finden. Parallel zu dieser verschärften Auslieferung der Arbeiterschaft an den Kapitalismus brach die traditionelle Arbeiterbewegung zusammen – ihr liefen die Mitglieder weg, da sie angesichts der neuen Produktionsformen und der Angst vor der Arbeitslosigkeit kaum mehr Erfolge vorweisen konnte und durch den „real existierenden Sozialismus“ in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten war.

In dieser historischen Situation breitete sich der Kapitalismus, unterstützt durch technologische Innovationen, mit einer präzedenzlosen Intensität und Schnelligkeit aus, und zwar nicht nur in bisher nichtkapitalistischen Gesellschaften, sondern auch in unseren Gesellschaften: In historisch vom Kapitalismus verschonten Berufsfeldern, Milieus und Regionen wurden die sozialen Beziehungen dem Profitstreben und die alltäglichen Erfahrungen der Kalkulierbarkeit unterworfen.

Der Widerstand gegen den Kapitalismus und die Kritik an ihm sind aber auf die moralischen, kognitiven und physischen Ressourcen angewiesen, die einst alternative Lebensformen und die familiale und schulische Erziehung bereitstellten, als sie den Normen des Kapitalismus noch nicht untergeordnet waren. Diese Ressourcen scheinen heute zu versiegen. Und wie könnte es auch anders sein in einer Zeit, in der der Kapitalismus eine zweite Jugend erlebt, indem er sich alles aneignet, was einst sein Außen, seine Authentizitätsreserven darstellte, und es – als „Konfitüre nach Großmutters Art“, „echte Gefühle“ und „Abenteuertourismus“ – in ökonomische Ressourcen verwandelt, die im Profitstreben verwertbar sind.

Besondere Beachtung verdient die Kultur des Projekts. Sie steht im Mittelpunkt jener neuen Formen der Rechtfertigung, die den Kapitalismus gegen die immer neu aufbrandenden Wellen der Kritik abschirmen sollen, indem sie bestimmte Aspekte dieser Kritik integrieren. Dabei geht sie einher mit einer neuartigen Vorstellung von Ökonomie und von Gesellschaft im Allgemeinen, die sich um die Metapher des Netzes rankt: An die Stelle eines homogenen, klar abgegrenzten Raums tritt ein offenes Netz, in dem die einzelnen Punkte mannigfaltige Verbindungen eingehen können. Diese neue Ordnung der Rechtfertigung können wir im Anschluss an die Managementliteratur als „projektbasiert“ bezeichnen. Damit ist eine Unternehmensstruktur gemeint, in der eine Vielzahl von Projekten völlig unterschiedliche Personen zusammenbringt, die zum Teil auch an mehreren Projekten gleichzeitig arbeiten.

Da Projekte immer einen Anfang und ein Ende haben, lösen die verschiedensten Projekte einander ab und setzen die Arbeitsgruppen stets neu zusammen. Analog hierzu lässt sich auch von einer projektbasierten Sozialstruktur sprechen. Von besonderer Wichtigkeit für die Etablierung von Netzwerken ist in diesem Gefüge die Figur des Vermittlers. Auf den Wert seiner Aktivität kann sich jeder beziehen, der „Beziehungen knüpft“ und sich am „Weben des Netzes“ beteiligt. Das neue Regime der Rechtfertigung stellt zudem Prinzipien bereit, auf die sich die Urteile über die Größe und Kleinheit – d. h. über die relative Wertschätzung – stützen können. Dabei handelt es sich bei dem Prinzip der Äquivalenz, an dem sich die Größe von Personen und Dingen bemessen lässt, um das Maß der Aktivität, das alle anderen Unterscheidungen – wie die zwischen Arbeit, Stabilität, Lohnabhängigkeit und ihren Gegenteilen – verdrängt.

Da Projekte aber nicht außerhalb sozialer Begegnungen existieren können, besteht die Aktivität par excellence darin, sich in Projekte einzufügen und die eigene Isolierung zu überwinden. Diese Aktivität manifestiert sich in Projekten aller Art, die zeitgleich oder sukzessive durchgeführt werden können, aber stets vorübergehender Natur bleiben. Das Leben erscheint dann als eine Abfolge von Projekten und ist umso wertvoller, je stärker sich die Projekte voneinander unterscheiden. Unter allen Umständen ist zu vermeiden, dass einem die Projekte und Ideen ausgehen, dass man nichts mehr im Blick oder in Vorbereitung hat, dass man zu keiner Gruppe gehört, die der Wille, „etwas zu unternehmen“, zusammenbringt.

Eben weil das Projekt eine Form des Übergangs ist, passt es so gut in die Netzwelt: Durch Projekte knüpft man Verbindungen, weitet die Kontakte aus – und arbeitet mit an der Expansion des Netzes. Wer in diesem Dispositiv der Rechtfertigung als „groß“ gelten will, muss sich als anpassbar und flexibel erweisen. Er ist aktiv und autonom, geht Risiken ein, um neue, verheißungsvolle Kontakte zu knüpfen, und sucht stets nach neuen Informationen, um redundante Kontakte zu vermeiden. Diese Eigenschaften reichen aber noch nicht aus, um zu Recht als „groß“ zu gelten, da sie auch gänzlich opportunistisch als rein individuelle Erfolgsstrategie eingesetzt werden können.

In einer Rechtfertigungsordnung kann man aber nur als „groß“ gelten, wenn man im Dienste des Gemeinwohls handelt. Wer „groß“ sein will, muss sein Team antreiben können, ohne es autoritär lenken zu müssen. Er muss nicht nur seine eigene, sondern auch die Beschäftigungsfähigkeit seiner Mitarbeiter fortentwickeln.

Aus diesem Bild lässt sich auch ableiten, wer im Gegenzug als „klein“ gilt: jene, die sich nicht einzubringen wissen, weil sie kein Vertrauen erwecken, die nicht kommunizieren können, weil sie verschlossen sind, die antiquierten Ideen anhängen und autoritär oder intolerant sind. Alles, was ihre Mobilität einschränkt, erhöht ihre Inflexibilität: die Bindung an einen Beruf, eine Familie, eine Institution oder eine Region. Wer „klein“ ist, befindet sich nicht auf der Suche nach Netzwerken. Deshalb ist er von der Exklusion bedroht, die dem sozialen Tod gleichkommt.

In der projektbasierten Rechtfertigungsordnung muss man, um „groß“ zu werden, alles opfern, was die Verfügbarkeit einschränkt. Man muss darauf verzichten, ein Projekt zu haben, das das ganze Leben dauert (eine Berufung, ein Gewerbe, eine Ehe), und mobil bleiben. Man muss zum Nomaden werden. Um der Forderung der „Leichtigkeit“ zu entsprechen, muss man auf jede Stabilität, Verwurzelung oder Bindung an Personen und Dinge verzichten. In diesem Sinne „leicht“ zu sein bedeutet, keine institutionellen Verpflichtungen zu haben, der Autonomie den Vorzug vor der Sicherheit zu geben, aber auch, sich vom Ballast der eigenen Leidenschaften und Werte zu befreien.

In einer solchen vernetzten Welt sind die Individuen primär durch ihre Verbindungen zu anderen definiert. Deshalb werden sie permanent von zwei Sorgen umgetrieben, die sie in entgegengesetzte Richtungen treiben: der Sorge, dass es ihnen nicht gelingt, neue Verbindungen zu knüpfen oder zumindest die alten zu erhalten, also marginalisiert und ausgeschlossen zu werden, und der Sorge, sich in der unüberschaubaren Vielzahl von Aktivitäten zu verlieren und damit die Einheit des eigenen Lebens, ja die eigene Existenz zu riskieren. Die angstbesetzte Erfordernis, man selbst zu sein, wird einem heute als moralischer Imperativ von Kindheit an eingebläut, setzt die Individuen in der gegenwärtigen Situation aber starken Spannungen aus. Die Selbstverwirklichung erfordert das Engagement in Aktivitäten und Projekten, deren vorübergehender und uneinheitlicher Charakter das Selbst der Gefahr des Wesensverlusts aussetzt. Zugleich findet das Individuum gerade in seinen Projekten ein Minimum an Identität, das es stets von neuem gegen die Gefahr der Fragmentierung in Stellung bringen kann.

Die Kultur des Projekts bezieht sich primär auf die Welt der Unternehmen. Zugleich stellt sie jedoch ein allgemeines Muster dar, das sich auf zahlreiche andere Bereiche auszudehnen begonnen hat. So beschreiben Probleme der Bindung, der Beziehung, der Begegnung, des Bruchs, des Verlusts, der Isolierung und der Trennung die gegenwärtigen Veränderungen des Privatlebens, insbesondere im Bereich der Intimbeziehungen und der Familie. Auch hier finden wir – ganz wie in der Arbeitswelt – eine zunehmende Spannung zwischen den Anforderungen der Autonomie und dem Verlangen nach Sicherheit.

Die Ausdehnung der Kultur des Projekts auf das sogenannte Privatleben in seinen affektiven und intimen Dimensionen lässt sich etwa an der emotionalen, sexuellen und familialen Entwicklung schwangerer Frauen nachzeichnen – und an ihrer Entscheidung, das Kind zu bekommen oder abzutreiben. Der Prekarität der beruflichen Situation entspricht immer öfter die Prekarität der persönlichen Situation. Die als traditionell bezeichnete Form des emotionalen und sexuellen Lebens im Rahmen der Ehe wird zunehmend von einer projektbasierten Organisation des Privatlebens abgelöst, die sich durch einen ständigen, aber komplexen Wechsel zwischen Zölibat, Zusammenleben, Ehe und Scheidung auszeichnet.

Die unabweisbare Erfordernis, ein Sexualleben zu haben, das heute eine zumindest implizite Bedingung sozialer Normalität darstellt, hat dabei keineswegs „Libertinage“ und „Ausschweifungen“ zur Folge, sondern die Suche nach stabilen Bindungen, denen zumindest eine gewisse Dauer zukommt. Wie im Berufsleben – nur mit noch größerer Intensität – herrscht hier die Angst vor der Einsamkeit. Deshalb wird der Moment des Übergangs von einer Beziehung zur anderen zu einer so furchterregenden (und zugleich aufregenden) Prüfung, wie das auch für den Übergang zwischen verschiedenen Projekten gilt. Und je älter man wird, desto wahrscheinlicher erscheint die Möglichkeit, marginalisiert und vom Zugang zur Intimität der Anderen ausgeschlossen zu werden.

Der Kinderwunsch und das Engagement in dem immer öfter tatsächlich so bezeichneten „Projekt der Elternschaft“ müssen heute mit Bezug auf die netzwerkbasierte Welt verstanden werden. Das Gleiche gilt für die Praxis der Abtreibung. Es geht hier um ein Projekt, das robuster, langlebiger und weniger leicht aufzulösen ist als die affektiven und professionellen Projekte, an denen man sich bisher beteiligt hat: das Projekt „Kind“. In einer konnektionistischen Welt wird dieses Projekt zu einem Bollwerk gegen die Fragmentierung und stellt einen vielversprechenden Weg auf der Suche nach einem „authentischeren“ Leben dar. Eine solche „grundlose“ und „nicht strategische“ Entscheidung für eine Veränderung des eigenen Lebens, die durchaus „unberechenbar“ ist, steht im Gegensatz zu den gewöhnlichen, kurzlebigen, eigeninteressierten Entscheidungen, die sich alle – auch wenn sie nicht unmittelbar in Geld übersetzt werden können und es in ihnen um Personen und nicht um Dinge geht – jener für unsere Gesellschaften exemplarischen Entscheidung annähern: der Konsumentscheidung. Die Entscheidung für ein Kind soll den alltäglichen Entscheidungen entgegengesetzt werden, die sich dem Vorwurf aussetzen, unpersönlich, berechnend, standardisiert, unnatürlich, also unauthentisch zu sein. Die Entscheidung gegen das Kind und für die Abtreibung kann hingegen als Reaktion auf das Scheitern des Projekts der Elternschaft verstanden werden, als dessen Abbruch aufgrund mangelnder Bereitschaft der beteiligten Parteien, sich auf das Projekt wirklich einzulassen.

Für ein Verständnis der gegenwärtigen politischen Situation reichen die Fragen und Antworten, die auf der ökonomischen Achse entscheidend sind, nicht aus. Mit der Ausweitung des Kapitalismus auf die ehemals als „privat“ bezeichnete Welt des Familien-, Sexual- und Gefühlslebens, die durch neue Biotechnologien noch beschleunigt wird, bildet sich ein neues Feld sozialer Kämpfe heraus, das man im Anschluss an Michel Foucault als biopolitische Achse bezeichnen kann: Hier geht es nicht um die Produktion von Gütern, sondern um die Produktion des Lebens, insbesondere menschlicher Wesen.

Aus dem Französischen von Robin Celikates

LUC BOLTANSKI, Jahrgang 1940, ehemaliger Schüler des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, ist Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Sein Text ist in der zweiten Ausgabe der Halbjahreszeitschrift polar zum Thema „Ökonomisierung“ erschienen. Sie ist zu beziehen unter www.polar-zeitschrift.de. Die aktuelle Ausgabe widmet sich „Religion und Kritik“