Als Opfer auf der Anklagebank

Die Marokkanerin Yamila Ben Salah verlor ihre Tochter bei den Anschlägen auf die Pendlerzüge in Madrid 2004. Nun verfolgt sie als Betroffene die Gerichtsverhandlungen

MADRID taz ■ „Scheiß Marokkanerin wurde ich gescholten“, empört sich Yamila Ben Salah. Es geschah in einer Verhandlungspause im Verfahren zu den Anschlägen auf die Pendlerzüge von Madrid am 11. März 2004. Die 45- jährige Frau, die in einem der Züge ihre 13-jährige Tochter Sanae verlor, war wie jeden Tag unter den Zuschauern im Saal.

Es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass die gläubige Muslimin, die wie immer mit einem eng anliegenden Kopftuch und weiten Hosen und Pullover bekleidet ist, sich beschimpfen lassen musste. Bei vielen Besuchern liegen die Nerven blank. Erinnerungen kommen hoch. Muslime werde da schnell zum allgemeinen Feindbild. So etwas schmerzt. „Ich habe doch auch meine Tochter verloren. Wir sind doch alle Opfer“, sagt Ben Salah leise, aber bestimmt.

Dann schwindet der warme, weiche Ausdruck aus ihrer Stimme. Ben Salah erinnert sich an die Anschläge. Zu arg schmerzt es auch heute noch, wenn sie von jenem Tag spricht, der ihr Leben komplett verändern sollte: „Kurz vor acht Uhr morgens klingelte das Telefon.“ Es war Carla, eine Klassenkameradin von Sanae. Sie wartete wie jeden Tag auf ihre Schulfreundin, um vom Madrider Bahnhof Atocha gemeinsam zum Gymnasium zu gehen. „Sie sagte mir, dass Sanae nicht angekommen sei, dass Bomben explodiert seien“, erinnert sich Ben Salah. Der Albtraum begann. Am Bahnhof wurde Ben Salah aus Sicherheitsgründen abgewiesen. Auch in den Krankenhäusern oder in der Schule blieb die Suche nach der Tochter erfolglos. Schließlich fuhr Ben Salah zum Madrider Messegelände Ifema, wo die Verstorbenen aus den Zügen aufgebahrt wurden. Es herrschte Chaos. 191 Tote und über 2.000 Verletzte sollten es am Ende sein. „Dort gab ich eine Beschreibung von Sanae auf“, sagt Ben Salah mit Tränen in den Augen. Am nächsten Tag kam dann der Anruf. Sie solle vorbeikommen. „Es war Sanae“, erinnert sich Ben Salah. „Immerhin war ihr Körper am Stück. Andere Angehörige bekamen nur eine Plastiktüte.“ Schweigen, der Blick gesenkt. Sanae war Ben Salahs einzige Tochter. In Madrid geboren, war sie so etwas wie das Zeichen der Verankerung in Spanien. Jetzt ruhen ihre sterblichen Überreste in Tanger, der Stadt, aus der Yamila Ben Salah 1985 loszog, um ein besseres Leben zu finden. „Auch das Gerichtsverfahren kann mein Leiden nicht mindern“, beschreibt Ben Salah.

Worüber sie nur ungern spricht: Um ein Haar wäre ihr Ehemann und Stiefvater von Sanae, Abdenneri Essebbar, mit den anderen Angeklagten im Glaskäfig gesessen. Dies nennt Ben Salah den „zweiten Schlag in meinem Leben“. Es war am 13. Juni 2005, als mitten in der Nacht eine Gruppe schwer bewaffneter, vermummter Männer die Wohnung stürmte. „Sie schmissen mich auf den Boden, Gesicht nach unten, Stiefel im Genick“, erinnert sich Ben Salah. Zuerst glaubte sie an einen Überfall, bis sie merkte, dass es Polizisten waren. Sie legten Ehemann Abdenneri Handschellen an und nahmen ihn mit. Seither sitzt er in U-Haft. Zuerst wurde ihm vorgeworfen, einem der Täter des 11. März zur Flucht verholfen zu haben. Als sich dies als unhaltbar erwies, nahm das Gericht neue Ermittlungen auf. Jetzt soll Abdenneri zu einer Gruppe gehören, die Kämpfer für den Irak rekrutiert. „Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Mann unschuldig ist“, erklärt Ben Salah. Sie besucht ihn regelmäßig im Gefängnis und hofft, dass er bald freikommt. „Mein Mann ist kein Islamist. Er trinkt und hat mich mit anderen Frauen betrogen“, erzählt sie.

In Ben Salahs Kopf machen sich alle möglichen Verschwörungstheorien breit. Da wird Bin Laden zu einer Erfindung des Westens, die Angeklagten zu „Kleinkriminellen“. „In wessen Auftrag sie gehandelt haben, weiß ich nicht“, fasst Ben Salah zusammen. Mit dem Dschihad, dem heiligen Krieg, wie er im Koran definiert sei, hätten die Anschläge von Madrid, New York, London oder Casablanca nichts zu tun. Auf die Frage, wen sie als Drahtzieher vermute, schweigt Ben Salah erst einmal. „Mächtige Interessen“, antwortet sie dann. Nach einer erneuten Pause schaut sie auf und sagt mit fester und sicherer Stimme: „Irgendwann werden wir die Wahrheit erfahren, irgendwann.“

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