Die Schweiz ist weit weg

Der Artikel dieser Seite ist ein Vorabdruck aus dem neuen taz-Journal „Endlich. Tod – kein Tabu mehr“. Die Themen unter anderem: Warum spricht die Regierung von „Bündnispflicht“, aber nicht über das Töten, wenn sie Soldaten nach Afghanistan schickt? Wer kümmert sich um Kinder, die ihren Bruder oder ihre Schwester verlieren? Oder: Wer hilft den Eltern, wenn sie über den Tod ihres noch ungeborenen Kindes entscheiden sollen? Das taz-Journal können Sie unter www.taz.de/endlich, per Mail unter tazshop@taz.de, per Telefon unter (0 30)-2 59 02-1 38 oder per Fax unter (0 30)-2 59 02-5 64 bestellen.

„Ich will nicht dahinsiechen“, sagt mein todkranker Sohn. „Ich werde dich unterstützen“, sage ich. Aber Sterbehilfe ist in Deutschland illegal

PROTOKOLL ANTJE LANG-LENDORFF

Der Arzt sagt, er kann nichts mehr für Nils* tun. Zwei Tage vor Weihnachten sagt er das. Da ist mein Sohn dreißig Jahre alt. Wir sitzen in einem Besprechungszimmer der Klinik. „Wir können den Krebs höchstens noch etwas aufhalten, mehr ist nicht möglich“, sagt der Onkologe. Das Telefon klingelt, der Arzt unterbricht das Gespräch. Und schaut uns hinterher an. „Haben Sie noch Fragen?“ Nils schweigt. Er hat keine Fragen. Nicht jetzt.

Wir verlassen das Krankenhaus und fahren durch die verregneten Straßen der Stadt zu Nils’ Wohnung. Wir sprechen nicht viel. Drinnen setzt sich Nils an den Schreibtisch und schaut seine Post durch. Er stützt das Gesicht auf die Hände, weint leise. „Die haben mich aufgegeben. Was soll ich denn jetzt machen?“ Ich gehe zu ihm, nehme ihn in den Arm. „Ich will nicht dahinsiechen bis ich sterbe“, sagt er.

Ich bin Therapeutin und habe auch als Trauerbegleiterin gearbeitet. Deshalb habe ich mich mit dem Thema Sterbehilfe beschäftigt und glaube, der Wille des Betroffenen ist das Wesentliche. Wenn ein todkranker Mensch mit klarem Kopf entscheidet, dass er sterben will, dann sollte man ihm das ermöglichen. Doch in Deutschland ist Sterbehilfe nicht erlaubt. Wird dieses Verbot mich nun bald selbst betreffen? Meinem Sohn beim Sterben helfen – der Gedanke ist unerträglich. Ich bin schließlich seine Mutter. Aber sollte der Zeitpunkt kommen, an dem er nicht mehr leiden, nicht mehr leben möchte, dann wünsche ich ihm den Tod. Aus Liebe. „Wenn du diesen Weg irgendwann gehen willst, werde ich dich unterstützen“, sage ich. Er beruhigt sich etwas.

Angefangen hat alles knapp zwei Jahre vorher, an einem Dienstag im Januar 2004. Nils ruft an, ich bin zufällig zu Hause. „Na, was gibt’s um diese Zeit?“ Nils zögert. „Ich hab da leider eine nicht so gute Nachricht.“ Seine Stimme klingt gepresst. Wir haben ihm kurz vorher unser altes Auto geschenkt. „Ach, du hast den Wagen kaputt gefahren, was?“, frage ich. „Nein.“ Nils zögert. „Ich war gerade beim Arzt. Die haben da was festgestellt. Scheint was Bösartiges zu sein.“ Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Das kann nicht sein. Nils hat gerade sein Zweites Staatsexamen in Geschichte, Deutsch und Sport mit Auszeichnung bestanden und gleich eine feste Stelle als Lehrer bekommen. Er ist ein großer sportlicher Typ, spielt seit seiner Kindheit Handball und war noch nie wirklich krank. Nils sagt, dass er sofort in die Klinik muss. „Fährst du mich hin?“ „Natürlich, ich bin gleich bei dir.“

Die Ärzte untersuchen Nils zwei Wochen lang. Dann die Diagnose: Ein extrem seltener Krebs, ein desmoplastischer kleinzelliger Tumor im Bauchbereich, ein Sarkom. Nur zirka zweihundert Fälle sind bisher weltweit in Studien erfasst. Es gibt so gut wie keine Überlebenschance. Die Ärzte sagen, wenn Nils sich nicht behandeln lässt, bleiben ihm vielleicht zwei bis drei Monate. Mit einer hochdosierten Chemotherapie hätte er noch eine Lebenserwartung von zwanzig Monaten, aber genau weiß das keiner.

Drei Tage nimmt Nils sich Bedenkzeit. Er geht mit seinem Vater am Strand spazieren. Er sagt: „Ich dachte, mit dem Thema Sterben muss ich mich erst mit siebzig oder achtzig beschäftigen, aber doch nicht jetzt.“ Er habe immer gesund gelebt, habe nicht mal geraucht. „Warum trifft es denn gerade mich?“ Abends sitzt er lange mit seinem jüngeren Bruder Björn zusammen, spricht mit ihm über die Vor- und Nachteile einer Therapie. Und entscheidet sich schließlich dafür. Nils sagt, er versuche das sportlich zu sehen. Als Wettkampf gegen einen unbekannten Gegner. Ich selbst habe Angst davor, dass Nils unter der harten Behandlung nur leiden wird. Die Ärzte haben von keinem Überlebenden mit dieser Krankheit gesprochen. Mein Instinkt sagt mir: Das kann nicht der richtige Weg sein, es muss noch andere, sanftere Behandlungsmöglichkeiten geben. Aber Nils hat sich entschieden.

Die erste Chemotherapie beginnt. Nils ist guten Mutes. Bis sich herausstellt, dass die Ärzte es versäumt haben, ihn vorher auf eine Samenspende hinzuweisen. Kinder gehören zu seiner Vorstellung eines glücklichen Lebens dazu. Davon muss er sich nun verabschieden, die Schäden durch die Therapie sind schon zu groß. Nils ist tief getroffen. Keine eigenen Kinder – das macht ihm mehr zu schaffen als die Krankheit selbst. Gerade die Hoffnung, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können, hat ihm Kraft gegeben. Die Ärzte äußern sich dazu nicht. Erst Monate später sagen sie ihm, sie hätten geglaubt, er würde bald sterben.

Nils macht insgesamt sechs Hochdosis-Chemotherapien und wird einmal groß operiert. Seine geliebten blonden Haare fallen aus. Doch er übersteht alles. Er ist wie ein Stehaufmännchen. Kurz nach der Operation fährt er mit Freunden zum HSV. Als ein Tor für die Hamburger fällt, springt er auf, jubelt und hält sich dabei vor Schmerzen den Bauch. Er sagt: „Ich lass mir doch von der Krankheit nicht den Tag versauen.“

Im November ist Nils endlich befundfrei. Er nimmt eine neue Stelle als Lehrer an. Und verliebt sich in Sonja, eine Referendarin aus Hamburg, die beiden kennen sich schon länger. Ich recherchiere viel im Internet, trete in Kontakt mit anderen Betroffenen. In Großbritannien lebt ein junger Mann seit einigen Jahren ohne Rückfall. Das lässt uns hoffen. Doch bei Nils kommt der Krebs wie bei den meisten wieder. Er arbeitet weiter, muss parallel drei Operationen und eine doppelte Stammzelltherapie über sich ergehen lassen. Erneut besiegt er die Krankheit, doch schon nach wenigen Monaten ist der Tumor zurück. Eine Achterbahnfahrt. Kurz vor Weihnachten 2005 sagt ihm der Onkologe, dass seine Lebenszeit nur noch sehr begrenzt ist. Und ich verspreche, ihm beim Äußersten zu helfen.

Nils ist verzweifelt und wütend. Die Ärzte haben den Krebs zweimal weggekriegt. Warum geben sie jetzt auf? Ein Chirurg erklärt sich bereit, noch einmal zu operieren. Doch Nils bekommt eine Gürtelrose, ein Eingriff ist nicht möglich. Über das Internet erfahre ich von einem Medikament aus den USA, das bei uns so noch nicht angewendet wird. Ich kontaktiere Ärzte im In- und Ausland und kann ein ähnliches europäisches Mittel besorgen. Die Behandlung soll nach der Operation beginnen.

Nils kann nicht mehr einkaufen und kochen, er wohnt nun ständig bei uns. Wir reden in dieser Zeit erneut über Sterbehilfe. Ich habe mir Informationen der Schweizer Organisation Dignitas zuschicken lassen, die unheilbar Kranke in den Tod begleitet. In der Schweiz ist die Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt. Würde Nils wirklich dorthin reisen wollen, wenn es keine Chance mehr gibt? Er ist unschlüssig.

Nils stellt sich seinen Tod vor: Er würde noch einmal an seinen Lieblingsstrand fahren. Dahin, wo das Dünengras wächst, die Möwen auf den Sandbänken sitzen und die Schiffe ganz nah vorbeifahren. Mit diesen schönen Bildern im Kopf würde er am Abend ein Mittel schlucken. Nils sagt, er habe Angst vor einem qualvollen Sterben, nicht aber vor dem Tod.

Als die Gürtelrose abklingt und der Chirurg operiert, hat sich der Tumor im ganzen Bauch ausgebreitet. Jetzt ist tatsächlich nichts mehr zu machen. Der Arzt sagt es ihm gleich nach dem Eingriff. An diesem Tag gibt Nils die Hoffnung auf.

„Ich bin bereit zu sterben“, sagt er. Er setzt uns unter Druck. Wir sollen ihm Medikamente besorgen. Oder eine Pistole. Ich weiß nicht, was ich tun soll. „Ich kann dir hier in Deutschland keine Sterbehilfe organisieren, das ist verboten.“ Ich will ihm ja helfen, aber wie? Die Strafverfolgung würde ich auf mich nehmen. Doch ich komme hier nicht an Mittel, die ihm ein humanes Sterben sicher ermöglichen würden. Ich bin ohnmächtig.

Nils bittet mich schließlich, dass ich bei der Schweizer Organisation Dignitas die Sterbebegleitung für ihn beantrage. Ob er es überhaupt noch schaffen kann, dorthin zu fahren? Es sind die schwersten Tage für uns Eltern seit der Diagnose. Nils fleht uns immer wieder an: „Wieso hilft mir denn keiner? Man lässt doch kranke Tiere auch nicht einfach krepieren. Mit denen ist man gnädiger als mit mir.“ Er setzt alle unter Druck, auch die Ärzte und Pflegekräfte. Wenn eine Krankenschwester hereinkommt und fragt: „Kann ich noch was für Sie tun?“, antwortet er: „Sie wissen doch, was ich möchte.“

Wir haben mit Nils vereinbart, dass wir ihn nur besuchen, wenn er uns darum bittet. Es fällt uns gerade jetzt schwer, uns daran zu halten. Aber es ist das letzte bisschen Selbstbestimmung, das er noch hat. Als wir das nächste Mal zu ihm kommen, ist er ruhiger. Er lehnt die Behandlung mit stärkeren Schmerzmitteln nicht mehr ab. Das Pflegepersonal hat ihm gezeigt, wie er die Medikamente selbst dosieren kann. Sein Blick ist verändert. Etwas in ihm ist zerbrochen, das sehe ich in seinen Augen. Er hat es aufgegeben, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Es tut mir sehr weh, das feststellen zu müssen. Nils redet nicht viel und schaut durch uns hindurch.

Wir bekommen die Bewilligung von Dignitas schon nach kurzer Zeit. Nils könnte zum Sterben in die Schweiz fahren. Er hat entschieden, dass sein Bruder Björn ihn begleiten soll. Irgendwo müssten sie unterwegs übernachten, man schafft die Strecke von der Ostsee aus nicht an einem Tag. Aber Nils ist im Moment nicht transportfähig. Er hat sich noch nicht von der Operation erholt. Ich erkundige mich nach einem Wohnmobil und einem Krankenpfleger zur Begleitung. Und bin verzweifelt. Was tut uns das deutsche Gesetz da an? Warum zwingen die meinen Sohn, diese Tortur auf sich zu nehmen, bis in die Schweiz zu fahren, nur damit er würdevoll sterben kann?

Nils will nicht wegdämmern. Er will mit einem bewussten Blick aus der Welt gehen. Mit Sonja zusammen bereitet er in der Klinik seine Beerdigung vor. Auf einem karierten Papier aus dem Matheunterricht schreibt Sonja, wie er seine Beerdigung gerne möchte: eine schlichte Erdbestattung; einen zwei Meter langen Holzsarg, damit er ganz hineinpasst; die Rede am liebsten von Freunden oder nahestehenden Menschen; James Lasts „Biscaya“ als Wunschlied zum Abschluss; statt Blumenkränzen Geld für Unicef oder den WWF spenden; nach der Beerdigung am Meer essen und trinken.

Nils will nach Hause. Wir richten ihm sein Zimmer im unteren Stockwerk ein. Der Hausarzt betreut ihn jetzt. Sonja ist regelmäßig da, übernachtet neben ihm im Bett. Vor dem Einschlafen malen sie sich das Leben aus, das sie nicht führen können. Was hätten wir mit vierzig gemacht? Wer hätte seine Wohnung aufgegeben? Würden wir irgendwo auf dem Land leben oder in der Stadt? Manchmal hören wir die beiden im Zimmer lachen.

Die Schweiz ist weit weg. Nils bleibt immer öfter im Bett, die Schmerzen nehmen zu. Wir sprechen mit einem Arzt über Sterbehilfe. Er versteht unsere Situation. Aber sagt, er könne nichts tun. Er will sich nicht strafbar machen.

Nils sieht ausgemergelt aus. Der Tumor drückt auf die Speiseröhre. Mein Sohn war immer ein guter Esser. Jetzt steht er vor dem Kühlschrank, klappt ihn auf, klappt ihn zu. Er hat Hunger. Aber wenn er etwas zu sich nimmt, muss er sich vor Schmerzen krümmen. Da isst er lieber nichts. Während wir am Mittagstisch sitzen, hören wir ihn im Zimmer stöhnen. Unser Kind verhungert. Und wir sind hilflos. Nils wird immer dünner, zerbrechlicher. Sein Körper ist ihm fremd. „Warum kann ich nicht einschlafen und morgens einfach nicht mehr aufwachen?“ Er muss nochmals ins Krankenhaus, er hat Wasser in der Lunge. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Noch immer ist unklar, ob Nils die Fahrt in die Schweiz schaffen würde. Möchte er überhaupt dorthin? Wir erkundigen uns nach einem Ambulanzflug. Zehntausend Euro würde das kosten, das wäre uns egal. Aber Nils sagt, es sei zu spät. Er habe keine Kraft mehr. Er will bleiben. „Ich bin hier aufgewachsen. Und hier möchte ich auch sterben, nicht in einem fremden Land.“

Nils entscheidet sich für das Hospiz vor Ort. Dort bekommt er Schmerzmittel, wann immer er sie braucht. Es tritt genau das ein, was er vermeiden wollte: Er siecht allmählich dahin. Die Mitarbeiter gehen liebevoll mit ihm um, keine Frage. Sie sagen, er könne hier einen natürlichen Tod sterben. Aber was ist schon natürlich, wenn jemand einen derartigen Behandlungsmarathon hinter sich hat? Nils schaut in den Spiegel. „Diese Fratze, das bin ich nicht. Ich erkenne mich ja selbst nicht mehr.“ Er ist so abgemagert, wie man das von den Bildern der KZ-Gefangenen kennt. Seine Freunde wollen ihn gerne noch einmal besuchen. „Sag ihnen, das ist lieb, dass sie weiter an mich denken. Aber ich möchte nicht, dass sie mich so sehen. Sie sollen mich in Erinnerung behalten, wie ich immer war.“

Ein Anruf am Sonntagmorgen. Die Mitarbeiter denken, dass Nils in den nächsten Stunden sterben wird. Er hatte schon die ganze Nacht Atemaussetzer. Kurz danach sind wir alle im Hospiz. Sonja kommt weinend aus Nils’ Zimmer. Er war nicht mehr wirklich ansprechbar. Nils hat uns gebeten, ihm nicht beim Sterben zuzusehen. Er möchte alleine sein, wenn er diesen Weg gehen muss. Björn und ich entscheiden uns dennoch, Tag und Nacht im Hospiz zu bleiben. Wir richten uns im Gästezimmer gegenüber ein. Mein Mann ist tagsüber da.

Dienstag, spätabends. Nils will nur Björn um sich haben. Ich höre sie nebenan. Nils schluchzt leise vor sich hin. Björn fragt, ob er eine Kassette einlegen soll. „Die drei Fragezeichen“, die sind bei Nils und seinen Freunden Kult. Nils kann nicht mehr sprechen, aber klopft dreimal auf den Bettrahmen. Björn macht den Rekorder an.

In der Nacht möchte Nils uns noch einmal sehen. Seine Augen sind trüb, aber seine Hände greifen nach uns. Ich streichle ihn vorsichtig und sage ihm, dass wir ihn sehr lieb haben und dass wir so froh sind, ihn gehabt zu haben. Ich versuche meine Stimme ruhig zu halten. „Nils, es ist alles gut. Du musst dich nicht mehr so anstrengen. Du kannst jetzt ganz in Frieden gehen.“ Björn nimmt noch einmal seine Hand, verabschiedet sich. Wenige Minuten später stirbt Nils. Mein Sohn ist verhungert. Ich hätte ihm diese letzten Qualen so gerne erspart.

* Alle Namen geändert

ANTJE LANG-LENDORFF, Jahrgang 1978, arbeitet im Berlinressort der taz