Aus Liebe zu flüchtigen Dingen

Jetzt ist fast immer Weihnachten: Zumindest, was die Nachfrage nach den schönen, handgemachten Verpackungen angeht, die in der Kreuzberger Kartonagenfabrik Reich KG angefertigt werden. Für Dessous, für Angela Merkel, Künstler und Designer

Die Kartonagenfabrik Reich funktioniert noch immer wie vor schon 40 Jahren

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Leuschnerdamm 13, Engelhöfe, vierter Aufgang, zweiter Stock. Die gusseiserne Treppe schlängelt sich um den schweren Lastenaufzug. Gelbe Klinker, Industriegesellschaftspatina. Überall Erinnerungen an eine Stadt, die sich ganz und gar auf die Produktion eingestellt hatte. „Im ersten Stock haben Frauen Tag für Tag Röcke genäht, hundertfünfzig Frauen, hunderte Röcke am Tag“, erinnert sich Peter Sgoll. „Im dritten Stock waren es Mäntel.“ Damals, als die Berliner Mauer noch direkt vor dem Tor stand. Und Strukturwandel und Globalisierung vor der Tür.

Im zweiten Stock findet man die Kartonagenfabrik Reich KG. Seit 1953. Seit „der Herr Reich mit einer Kiste Kohlen und einem alten Küchentisch eingezogen ist und angefangen hat zu kleben.“ In den Engelhöfen ist sie längst die einzige aus der alten Zeit. Die Industriegesellschaft ist aus- und die Erlebnisgesellschaft eingezogen. EMI oder Mute heißen die neuen Nachbarn. Plattenfirmen, die inzwischen an ihrer eigenen Krise knabbern.

In der 400 Quadratmeter großen Gewerbeetage scheint sich seit 1953 eigentlich nichts verändert zu haben. Nur die Posterwand hinter den Arbeiterinnen kann ab und an Zuwachs vermelden. Knut hängt jetzt dort – neben einem vergilbten Elvis.

Auch Peter Sgoll arbeitet schon seit 40 Jahren in der Kartonagenfabrik, die ihm seit fast 25 Jahren gehört. „Kartons für alle Branchen“ steht auf seiner Visitenkarte, „schön verpackt – halb verkauft!“

Die kartonierte Weinkarte des Adlon am Pariser Platz, Präsentationsboxen für die Bundesdruckerei, sämtliche Brillenetuis für das Label ic! berlin – die 15 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fertigen am Leuschnerdamm tatsächlich „für alle Branchen“. Sie arbeiten für eine Ausstellung des Künstlers Tom Sachs in der Deutschen Guggenheim genauso wie für die Modemacherin Jacqueline Huste und für Angela Merkel und das Bundeskanzleramt.

Einzelstücke sind immer wieder darunter, wie die mit blauem Samt bezogene Schachtel für eine Vase, die als Gastgeschenk der Bundeskanzlerin um die Welt geschickt wurde. Großaufträge kommen Peter Sgoll hingegen nur bedingt gelegen. „Natürlich können wir auch 5.000 Stück liefern, doch das wird ja irgendwann langweilig. Dann arbeitet man automatisch unkonzentrierter und langsamer. Außerdem denken die Kunden, dass große Mengen immer günstiger werden. Aber Handarbeit hat nun mal ihren Preis.“ Hundert Stück, das ist so eine Größenordnung, die Herr Sgoll am liebsten mag.

Handarbeit hat ihren Preis. Und viele Kartonagenfabriken sind daran gescheitert. Zum ersten Mal während der Ölkrisen in den Siebzigerjahren, als die Preise für Papier und Pappe plötzlich sprunghaft gestiegen sind. Und dann später nach der Wiedervereinigung, als sich viele Betriebe an den eigenen Expansionsplänen verschluckt haben. Die Kartonagenfabrik Reich jedenfalls ist längst die einzige in Berlin und darüber hinaus. Auch, weil man sich in Zeiten des Wandels immer selbst treu geblieben ist.

Fünfzig oder hundert Jahre alt sind die Maschinen in der Fabriketage. Die meisten hatte Gerhard Reich damals schon gebraucht gekauft. Reparieren muss Peter Sgoll, der gelernte Elektroanlagenbauer, trotzdem selten etwas. Hin und wieder werden die Schneidemesser geschliffen und die Antriebswellen geölt. Ansonsten läuft das Geschäft momentan wie geschmiert.

„Früher gab es klassische Konjunkturzyklen, das Frühjahr war eher mau, vor Weihnachten brummte der Laden. Heute ist es fast so, als wäre immer Weihnachten“, sagt der geborene Kreuzberger. Wie zum Beweis stehen die beiden Plastikbäumchen mit dem Goldlametta nur ein wenig zur Seite gerückt zwischen den Schachteln und Schneidemaschinen. „Keine Zeit zum Wegräumen, immer noch nicht.“

Ohnehin scheint wenig weggeräumt worden zu sein in den vergangenen fünfzig Jahren. Über dem Eingang stapeln sich noch Archiv- und Ablagekästen aus den Anfangstagen der Firma. Aus einer Zeit, in der noch die Alltagsgegenstände selbst aus Pappe waren und nicht nur ihre Verpackungen.

Heute packt die Möbeldesignerin Sabina Nordalm die von ihr entworfenen Garderobenhaken in Schachteln vom Leuschnerdamm. „Wenn du zehn Kisten brauchst, dann geh zu Reich“, hatte ein Bekannter ihr gesagt. Peter Sgoll mag diesen Satz. Und er mag das Gefühl, dass diese Menschen seinen flüchtigen Dingen eine unbedingte Wertschätzung entgegenbringen. „Eigentlich sind unsere Produkte mit den Jahren immer schöner geworden. Wenn wir etwa einen Dessousladen mit stoffbespannten Schubfächern ausstatten, dann fahre ich schon mal vorbei und gucke mir an, wie das im Endeffekt aussieht.“

Die Kartonagenfabrik Reich ist auch ein sentimentaler Ort. „Dass es so was noch gibt“, bekommt der 61-Jährige häufig zu hören. Von Menschen, die meinen, plötzlich in einem begehbaren Manufaktum-Katalog gelandet zu sein. Das ist die Perspektive derer, die Fabriketagen selbst nur noch als umgenutzte Lofts oder Großraumbüros kennengelernt haben.

In einem Gewerbehof um die Ecke, in der Oranienstraße, hat das Museum der Dinge vor wenigen Wochen seine neue Dauerausstellung eröffnet. Die Kartonagenfabrik aber ist kein Museum, sondern sogar das genaue Gegenteil: ein Unternehmen, das – jenseits aller Retrophänomene – immer noch so funktioniert, wie es schon vor 40 Jahren funktioniert hat. Und wie vor 40 Jahren viele ähnliche Betriebe funktioniert haben. In den Gewerbeetagen, in denen heute die Plattenfirmen sitzen, die Großraumbüros oder das Museum der Dinge. Man nannte es Arbeit. Schön, dass es so was noch gibt.