Dokutheater beim "Spielart"-Festival: Polizei auf brasilianisch

In "SOKO São Paulo" können Zuschauer brasilianische und Münchener Polizisten "verhören". Videoinstallationen zeigen Übungen zum Schusswaffengebrauch in den Favelas.

Ein brasilianischer Polizist erklärt den Schusswaffengebrauch. Bild: produktion

An diesem Tag begann Eliana, sich vor sich selbst zu fürchten. Sie notierte die Nummer eines falsch parkenden Autos, als ein Mann auf sie zukam und sie als Hure beschimpfte. Sie tastete nach ihrer Waffe. "Ich überlegte", meint die Frau mit dem freundlichen puppenhaften Gesicht, "ob ich ihm einen Strafzettel ausstellen oder ihn erschießen soll." Danach beschloss Eliana, den Dienst in den Straßen von São Paulo zu quittieren.

Das ist nur eine von vielen Geschichten, die einem bei "SOKO São Paulo" den Atem rauben. Im ehemaligen Leibniz-Rechenzentrum in München haben der Regisseur Stefan Kaegi von Rimini Protokoll und die argentinische Autorin und Regisseurin Lola Arias für das diesjährige Theaterfestival "Spielart" ihre szenische Installation eingerichtet. Auf zwei Stockwerken führt sie durch kalte, kahle Zimmer, an deren Wänden Fotos und Zettel hängen. Hinter Schreibtischen sitzen brasilianische und deutsche PolizistInnen in kleinen Museen ihres Lebens, erzählen und beantworten in Umkehrung der Verhörsituation Fragen. In einigen der Zellen werden Videos gezeigt oder Übungen für den Schusswaffengebrauch in den Favelas demonstriert.

Anknüpfend an ein Projekt in São Paulo im Februar 2007 haben Kaegi und Arias brasilianische PolizistInnen nach Deutschland geholt, wo sie auf Münchner Kollegen treffen. Ein radikalerer Gegensatz ist kaum denkbar. In München, wo man nach der Polizei vorwiegend wegen Ruhestörung ruft, wurde vor zwölf Jahren zum letzten Mal ein Polizist im Dienst getötet. In São Paulo ist das Alltag. Der Süden der Stadt, die sich vergangenes Jahr am Rand eines Bürgerkriegs befand, hat eine der höchste Mordraten der Welt.

Trotzdem stößt man immer wieder auf Parallelen. So begegnet man bei den Polizistinnen der nämlichen Sehnsucht nach Überwindung weiblicher Ohnmacht durch die Uniform als Körperpanzer, Garant von Respekt und Autorität.

"SOKO São Paulo" schreibt die Arbeiten des in wechselnden Konstellationen agierenden Regiekollektivs Rimini Protokoll mit Menschen, die sich selbst darstellen, fort. Die Vorreiter und Stars des Trends zu dokumentarischen Spielformen, über die demnächst ein Buch mit Beiträgen von Diedrich Diederichsen und Heiner Goebbels erscheint, dürfen zur Liste ihrer Auszeichnungen 2008 in Thessaloniki den Europäischen Theaterpreis hinzufügen. Kaum eine andere Gruppe hat in jüngerer Zeit überzeugender vorgeführt, wie aufregend Theater sein kann, abseits der Konventionen des Betriebs, aber auch des Theoriegeschwurbels und der narzisstisch barocken Verspieltheiten mancher Performancekünstler.

Dabei wissen die Regisseure von Rimini Protokoll um die Fallen des Doku-Theaters, die Fiktivität des Authentischen. Es ist der hohe Grad an Bewusstheit, die intelligente Inszenierung von Realitätszitaten gepaart mit der Offenheit, ernsthaft zuzuhören, statt die Wirklichkeitsfragmente in vorgefertigte Schnittmusterbögen zu zwingen, der auch das erste Gemeinschaftsprojekt von Kaegi und Arias auszeichnet. Das Regieduo hat den Erzählfluss klug strukturiert, um ihn nicht in Privatanekdoten verplätschern zu lassen. Perfekt planbar aber ist er natürlich nicht. So kann sich - das ist die Schwäche der offenen Struktur - zwischendrein denn auch ein belangloses Geplänkel über die Brasilienerlebnisse eines Besuchers entspinnen.

Doch ebenso unvermittelt ist man Momenten schmerzlicher Distanzlosigkeit ausgesetzt: Etwa, wenn sich die Kriminalhauptmeisterin Verena Kunze daran erinnert, wie eine Frau, deren Exfreund sie mit Benzin übergossen und angezündet hatte, kurz vor ihrem Tod die Kriminalhauptmeisterin um eine letzte Zigarette bat. "SOKO São Paulo" ist irritierend, erschreckend, traurig, verwirrend, banal und brutal. Da beschwört eine junge Münchnerin die Unantastbarkeit von Recht und Ordnung und ein brasilianischer Polizeitrainer erklärt, warum es für Kopfschüsse die höchste Punktzahl gibt: "Problem gelöst."

Das Erstaunliche an diesem Theater ist, dass es reich ist an Angeboten für einen hochkomplexen Diskurs und dabei so unmittelbar daherkommt, dass es keinen ausschließt. Man braucht dafür kein schweres Begriffsgepäck. Am Ende wird es richtig lustig, wenn alle auf einem Fußballfeld zum Minimatch antreten, das der in Bayern kultige Sportreporter Günther Koch mit bissigem Witz kommentiert. Unvergesslich aber bleibt anderes. Der kleine Zettel im Zimmer des netten pensionierten Polizisten Sebastião etwa. "Wenn Sie mich fragen", war da zu lesen, "wie viele Menschen ich getötet habe, werde ich nicht antworten."

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