Schriftsteller gegen Islamismus: Das unbequeme Gewissen Algeriens

Die Bomben in Algerien richten sich gegen unabhängige Köpfe wie den Schriftsteller Boualem Sansal. Er schreibt über staatliche Gewalt und Korruption sowie religiöses Spinnertum.

Schrieb, um die Gewaltexzesse um sich herum zu verkraften: Boualem Sansal. Bild: rainer wandler

Boualem Sansal genießt diese kleine Fluchten. Sicher lenkt er seinen alten Wagen durch die hochgelegenen Stadtteile Algiers. Zu Fuß geht der 57-jährige Schriftsteller nur noch ungern, seit der Terror seine Heimat Algerien in den 90er-Jahren heimgesucht hat. Sansal war damals ein hoher Beamter im Industrieministerium. Und als solcher war es nicht empfehlenswert, ungeschützt durch die Stadt zu laufen.

Von Boualem Sansal sind in deutscher Übersetzung die Romane erschienen: "Harraga" (Berlin 2007, 320 Seiten, 22,90 €); "Der Schwur der Barbaren" (Berlin 2003, 486 Seiten, 23 €); "Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum" (Berlin 2002, 320 Seiten, 23 €). "Erzähl mir vom Paradies" (Berlin 2004, 320 S., 22,90 €). Alle im Merlin Verlag. Insbesondere für "Der Schwur der Barbaren" wurde Sansal mit Literaturpreisen überhäuft. Außerdem sind auf Französisch erhältlich: "Poste restante: Alger. Lettre de colère et despoir à mes compatriotes" (Paris 2006, 5,50 €) und "Petit éloge de la mémoire. Quatre mille et une années de nostalgie (Gallimard Collection Folio, Paris 2007, 2 €)

"Die Straßen waren unsicher. Die Züge ebenfalls", erinnert sich der ruhige weißhaarige Mann. Oft konnte er nicht einmal mehr zur Arbeit. Er blieb in seiner Wohnung in Boumerdès, einer bis heute unsicheren Kleinstadt, 50 Kilometer östlich von Algier. "Sirenen, Schüsse, Explosionen, Massaker in den Dörfern rundherum, Autobomben in der Hauptstadt Was macht man in einer solchen Situation, in der man nicht mehr lebt?" Sansal begann zu schreiben. "Exorzismus" nennt er diese fast schon zwanghafte Flucht in die Literatur, die mittlerweile vier Romane hervorgebracht hat.

"Seither ist viel Blut den Fluss hinuntergeflossen und Ozeane von Bitterkeit durch die Herzen", konstatiert Sansal in seinem jüngsten Buch, "Harraga", das gerade auf Deutsch erschienen ist. Und immer noch sind die Erinnerungen schmerzhaft lebendig. "Harraga" - so werden auf Algerisch diejenigen genannt, die illegal auswandern - beschreibt, anders als die ersten drei Romane, nicht nur das Chaos ringsherum, sondern lässt auch einen tiefen Blick in das Innenleben des Autors, in jene dunkle Zeit zu, als er isoliert mitten im Bürgerkriegsgebiet das Schreiben begann.

Mit der Figur der Krankenschwester Lamia schafft Sansal ein Spiegelbild seiner selbst, seiner Angst, Depression und Verzweiflung. "Hart ist die Einsamkeit für den, der nicht bis zu den Zähnen bewaffnet ist. Ich habe gelernt, das Beste daraus zu machen, ich kann meine Tage mit nichts füllen, Stille, Träumen, Reisen in der vierten Dimension ", lässt der Schriftsteller sein Alter Ego sagen. "Ich liebe es, mich zu extravaganten Träumen aufzuschwingen, in parallele Leben zu schlüpfen, die einfach so aus dem Schnurren der Nacht, aus der Feuchtigkeit des Bettes auftauchten, und dorthin aufzubrechen, wo Dinge enden, wo das wahre Leben beginnt."

Der Autor beobachtet genau und bedient sich dabei eines Realismus, gepaart mit Fantasie und Magie, der dem Stil der Großen aus Lateinamerika ähnelt. "Sansal hat den Weg des Widerstands gewählt, den er von Buch zu Buch mit einer kraftvollen, großzügigen und zutiefst menschlichen Sprache weitergeht. Zu unserer großen Freude", urteilt die wichtigste französische Tageszeitung Le Monde über den letzten bekannten algerischen Autor, der nicht im Exil lebt.

Sansal, in Frankreich von dem prestigereichen Verlag Gallimard veröffentlicht, wird als Erneuerer jener Sprache gefeiert, die der algerische Schriftsteller Kateb Yacine einst als "Kriegsbeute" bezeichnet. "Der Schwur der Barbaren", das 1999 verlegte Erstlingswerk des heute 58-jährigen Sansal, wurde preisgekrönt.

Alle seine Bücher sind wie "Harraga" als Satiren zu verstehen, zynische Gemälde einer Gesellschaft voller Korruption, Gewalt und Lügen. Es ist "eine Welt, die keinen Glauben, die keine Werte mehr hat, die sich nur noch darauf versteht, auf ihre Dummheit und Entwürdigung stolz zu sein", schreibt Sansal über sein Algerien, das er - wie die Romangestalt Lamia - so sehr liebt, aber doch längst verloren hat. Die literarische Kritik kennt keine Tabus. Sansal rechnet unerbittlich mit "Polizeidiktatur, Bürokratie und Frömmlern" ab. Denn "Opposition bedeutet nicht nur Opposition gegenüber dem Regime, sondern auch gegenüber den Gesetzen, dem Propheten und selbst gegenüber Gott. Opposition ist Opposition gegenüber allem."

Distanz zum Regime

Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter - sein Vater starb bei einem Autounfall, als Sansal ein Jahr alt war - wuchs der kleine Boualem in Algier heran, in dem einst multikulturellen und multireligiösen Stadtteil Belcourt, der Heimat des algerofranzösischen Literaturnobelpreisträgers Albert Camus, aber auch des Führers der Islamischen Heilsfront (FIS), Abassi Madani.

Als Sansal fünf Jahre alt war, versank seine Welt ein erstes Mal in Schrecken und Gewalt. Der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich begann. Er endete, als Sansal 13 war. Anders als die meisten seiner Kommilitonen trat Sansal im neuen Algerien weder der Studentenorganisation des Einheitsregimes noch der alles dominierenden Front de Libération National (FLN) bei. "Ich stand von jeher in intellektueller Distanz zum Regime." Sansal wurde Ingenieur. Im Laufe der Jahre bringt er es bis zum Direktor einer Abteilung im Industrieministerium. 2003 wird er entlassen. Zu kritisch sind seine mittlerweile auch öffentlich bekannten Äußerungen.

In "Harraga" wie auch in seinen früheren Romanen beschreibt Sansal die Schizophrenie seines Landes mit einer Mischung aus für Algerier überlebenswichtigem Humor, Zynismus und Wut. Es ist ein Land in der Hand der Militärs und ihrer Geheimdienste. Aber auch ein Land, in dem "es nicht an Predigern fehlt". Für Sansal wird das meiste "von oben" diktiert, auch rückblickend in der Geschichte. Der offizielle Nationalismus mit seinen Mythen aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich ist zur "Chronik eines Alibis" verkommen, um Korruption, den Staatsstreich kurz nach der Unabhängigkeit, Raub und Mord zu entschuldigen. "Die Karten wurden falsch gegeben, der finsterste Islam und der bekloppteste Modernismus machen sich Phrasen und Initiativen streitig." Wer nicht versucht wegzukommen, wendet sich nach innen.

"Gott, wo sind wir nach all den Jahren des Schweigens?", fragt Sansal seine Landsleute in seinem politischsten Werk "Poste restante: Alger" - "Postlagernd Algier" -, das vor einem Jahr in Frankreich erschien. Das dünne Bändchen ist eine Streitschrift in guter alter französischer Tradition. Sansals ganz persönliches "Jaccuse" ist Liebesbrief und Wutausbruch zugleich und vor allem ein Ruf an die Algerier, endlich aufzuwachen.

"Im Grunde haben wir nie die Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. () Dabei haben wir uns so viel zu sagen über unser Land mit seiner verfälschten Geschichte, seiner kaputten, verwüsteten Gegenwart, seiner verpfändeten Zukunft, über uns selbst, gefangen im Netz der Diktatur unter dem Knüppel der Ideologie und Religion, desillusioniert bis zum Angeekeltsein, und über unsere Kinder, die Ersten, die von so einem Regime bedroht werden."

Appell an die Landsleute

Sansal glaubt nicht an die Politik der Aussöhnung von Präsident Abdelasis Bouteflika. "Unsere Stimmen wurden beschlagnahmt, um diejenigen zu amnestieren, die bis heute nichts als Leid gebracht haben", schreibt er über das Referendum, durch das sich das Regime die Amnestie hat absegnen lassen. "Die Urnen wurden manipuliert, aber warum haben wir nicht reagiert? Eine Massenamnestie für neurotische Islamisten und das Weißwaschen skrupelloser Hintermänner im Staatsapparat sind schließlich etwas anderes, als einen aufgezwungenen Präsidenten zu wählen. Die Urnen haben dazu gedient, die schmutzigen Flecken auf der Wäsche der regierenden Clans zu entfernen ", sagte Sansal in einem Appell an seine "lieben Landsleute" und warnte vor den Folgen: "Unsere Kinder gehen, wie man ein sinkendes Schiff verlässt." Viele sterben dabei, wie er in "Harraga" beweint.

Längst gilt der streitbare Schriftsteller in Algerien als Persona ingrata. Die einst selbst oppositionelle Kulturministerin Khalida Toumi (Messaoudi bis zu ihrer Scheidung) hat ihm in aller Öffentlichkeit in der Schweiz auf der Buchmesse in Genf das Wort entzogen. Seine Schrift "Poste restante: Alger" darf nicht nach Algerien eingeführt oder dort vertrieben werden. Auch "Harraga" und die anderen seiner Romane sind nur schwer in algerischen Buchläden zu finden. "Wer von Bedrohung spricht, denkt leise und heimlich an die Regierung", lässt Sansal die Romanfigur Lamia sagen. Ob er selbst Angst habe? "Sicher. Es ist leicht, einen Kleinkriminellen anzuheuern, damit er jemanden auf offener Straße anpöbelt und das Messer zieht", antwortet Sansal. Weg von hier wie die Jugendlichen in seinem Roman "Harraga"? Nein, weg will er nicht. Auch wenn er längst die Hoffnung auf eine Zukunft für Menschen wie ihn in Algerien verloren hat. "Heftige Kritik kann man nicht glaubwürdig vom Ausland aus üben", sagt Sansal mit sicherer Stimme, bevor er die Rundfahrt auf den Höhen Algiers beendet. Zurück geht es nach Boumerdès, dem Ort seines inneren Exils, aus dem er hoffentlich auch künftig schreibend ausbrechen wird.

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