Das Märchen von Raquela

Der Film „The Amazing Truth About Queen Raquela“ von Olaf de Fleur Johannesson wird im Rahmen der Berlinale mehrfach zu sehen sein. Am Sonntag, 10. Februar, um 22.30 Uhr im CinemaxX, am Montag, den 11. Februar um 20.15 Uhr im CineStar 3, am Mittwoch, den 13. Februar um 17.45 Uhr im CineStar 3 und am Samstag, den 16. Februar um 20 Uhr im CinemaxX 7.

Olaf de Fleur Johannesson ist ein isländischer Regisseur und Produzent. Er studierte zunächst Physik an der Universität Reykjavík und gründete im Anschluss die unabhängige Produktionsfirma Poppoli Pictures, die sich hauptsächlich auf Dokumentarfilme konzentriert.

Einer der bekanntesten „Ladyboys“ in Thailand ist Parinaya Charoemphol, ehemaliger Thaiboxmeister. Sie begann den Wechsel der Geschlechtsrolle und die Hormonbehandlung bereits, als sie noch aktiv im Ring stand, und beendete ihre Karriere 1999, als sie sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Ihr Leben wird in dem Film „Beautiful Boxer“ von 2003 erzählt. Ebenfalls filmisch wurde das Thema in „Iron Ladies“ verarbeitet. Der Film basiert auf der wahren Begebenheit einer von Ladyboys dominierten Volleyballmannschaft, die ein wichtiges thailändisches Turnier gewonnen hatte.

Der Berlinale-Beitrag „The Amazing Truth About Queen Raquela“ will die wahre Geschichte eines philippinischen Ladyboys erzählen. Stattdessen spiegelt er das wahre Gesicht des westlichen Zuschauers: Es ist ohne Mitgefühl

VON JOHANNES KRAM

Raquela ist die Heldin in „The Amazing Truth About Queen Raquela“ des isländischen Regisseurs Olaf de Fleur Johannesson – der Film handelt von Raquela, einem Ladyboy („a chick with a dick“) auf der philippinischen Insel Cebu, und einem amerikanischen Sex-Internetunternehmer aus New York. Der Film, der als Festivalbeitrag auf der Berlinale laufen wird, bezieht seine Berechtigung aus der Behauptung: Schaut her, schaut genau hin, so ist sie, die Realität! Das Problem: Sie ist eben nicht so.

„The Amazing Truth About Queen Raquela“ ist kein Film, der die echte Geschichte eines philippinischen Ladyboys erzählt, sondern ein Film, in dem ein europäischer Regisseur unsere Vorstellung von einem philippinischen Ladyboy von einem echten philippinischen Ladyboy nachspielen lässt. Statt über die Verhältnisse vor Ort erzählt der Film ungewollt eine ganze Menge über westliche Projektionen in Sachen Gender und Entwicklungsländer.

Zu Zeiten der Brüder Grimm richtete sich die Fantasie der Menschen auf Gegenden jenseits der Wälder, Auen und Höhen. Heute drehen wir die Weltkugel zwar ein bisschen weiter, aber die Muster der Verklärung, der schlichten Moral und mythischen „Wenn sie nicht gestorben sind“-Szenarien sind fast identisch geblieben. Die sieben Berge sind den fünf Tibetern gewichen, der dunkle Wald als Ort des verhängnisvollen Zusammentreffens wurde durch das globalisierte weltweite Netz abgelöst. Und die sogenannte Dritte Welt haben wir uns als ein Fantasialand zurechtgedacht, bestückt mit lauter modernen Märchenhelden, wie etwa dem erhabenen Massai, dem kubanischen Gitarriero und der asiatischen Dirne. Eine Welt aus reinstem Pseudoethno, zusammengesetzt aus imaginären Themenparks, in denen die immer wieder gleichen Plots wie Achterbahnen durch die Pappkulissen brausen.

So ist die philippinische Märchenheldin Raquela arm, gottesfürchtig und sorgt sich um ihre Familie. Der Amerikaner ist ein Kinderhasser, flucht dauernd herum und verwendet auch sonst jede Minute des Films darauf, uns zu sagen, was für ein unglaubliches Arschloch er ist. Raquela träumt von der Liebe und Paris, der Amerikaner verspricht ihr beides, und zwar als Belohnung für ihre Pornodienste. Aber eigentlich auch nur, um sich an sie ranzumachen.

Wer solche Filmcharaktere ein bisschen eindimensional findet, läuft wohl Gefahr, der Ahnungslosigkeit bezichtigt zu werden – immerhin ist der Film ein offizieller Berlinale-Beitrag. Und wer denkt, dass ein Film, dessen Plakat eine schrille Transe am Pissoir inszeniert, vielleicht etwas platt werden könnte, gilt wohl leicht als gefühllos – denn schließlich handelt es sich ja laut Eigenwerbung um eine „Cinderella“-Story. Den Versuch einer „Pretty Woman“ für Arme und deren fair gehandelten Café Latte trinkende Verbündete.

Problematisch ist zunächst die selbstverständliche Einordnung der Ladyboys als „Transsexuelle“. Anders als Transvestiten, bei denen es sich um Männer in Frauenkleidung handelt (übrigens unabhängig von ihrer sexuellen Neigung), haben transsexuelle Männer das Gefühl, im falschen Körper zu stecken. Selbst wenn dies für die Hauptfigur des Films zutreffen sollte, so ist doch die Verallgemeinerung, dass Ladyboys auf Cebu immer Transsexuelle seien, bestenfalls naiv.

Wie in vielen tief religiös und vom Machismo geprägten Gesellschaften ist offene Homosexualität ein richtiges Problem, besonders in den unteren Schichten. Eine selbstbewusste Schwulenszene gibt es auf Cebu nicht. Männer, die es mit Männern treiben, werden als „Bisexuals“ bezeichnet, die lediglich eine Phase, eine Schwäche, auf jeden Fall aber nicht ihre Identität leben. Der Begriff „Gays“ ist für jene reserviert, die sich in Frauenkleidern auf die Suche nach Männern machen. Schon in frühester Pubertät werden „queer“ fühlende Jungs in diese Rolle gedrängt: Während „Male to male“-Beziehungen als Schande gelten, genießen die „Gays“ – also die Frauenkleider tragenden Ladyboys – sowohl eine gewisse Narrenfreiheit als auch eine ganz bizarre Form gesellschaftlicher Anerkennung: Die Miss Gay Pageants sind glamouröse Schönheitswettbewerbe, in denen junge Männer als Frauen in Bikini und Abendkleid hochernst um die Wette schaulaufen.

Diese Events werden aufwendig produziert wie richtige Misswahlen, inklusive einer obligatorischen Talkrunde, in der die Teilnehmerinnen einer kritischen Befragung unterzogen werden, um ihrer Persönlichkeit auf den Zahn zu fühlen. Oft mit Tränen der Rührung in den Augen berichten sie dann von ihrer Bestimmung: gay zu sein, also wie eine Frau zu sein, also dafür da zu sein, schön und lustig zu sein. Diese Shows finden nicht in subkulturellen Milieus statt, sondern unter riesiger öffentlicher Beteiligung in den Mehrzweckhallen der Universitäten, auf Markt- und Sportplätzen. In den Jurys sitzen Professoren, Politiker und Celebrities. Und bevor die Kandidatinnen auf die Bühne gerufen werden, erheben sich alle zum gemeinsamen Vaterunser-Gebet.

In der viel moderneren, entwickelteren Hauptstadt Manila gibt es jedoch eine selbstbewusste, offene Schwulenszene. Im Vergleich zu Cebu steht hier „gay“ viel selbstverständlicher für Männer, die auf Männer stehen. Ladyboys sieht man hier sehr viel seltener. Inwieweit es sich bei Cebus Ladyboys wirklich um Transsexuelle oder einfach nur um feminine junge Schwule handelt, könnte man nur dann beurteilen, wenn man ihnen ein Mindestmaß an entsprechenden Entfaltungsmöglichkeiten gestatten würde. Durch die mystische Überhöhung, die in Filmen wie „Raquela“ stattfindet, wird jedoch nicht nur genau die Rolle festgeschrieben, die diesen jungen Menschen in ihrer antiemanzipatorischen Gesellschaft zugewiesen wird, sie wird auch noch ikonisiert und beklatscht.

Den Betroffenen erweist man damit einen Bärendienst. Der affirmativ-sozialkritische Blick auf die Protagonistin vom europäischen Kinosessel aus unterscheidet sich in Wahrheit nicht von jenen amüsiert-herablassenden Blicken während der Wahlen zu den Miss Gay Pageants. Hinter diesem Blick verbirgt sich keine Haltung, die sich mit den tatsächlichen Bedürfnissen der „schrillen Freaks“ auseinandersetzt: ihrem Bedürfnis nach Anerkennung, Respekt. Häufig sogar nach einer lebbaren, selbstbewussten männlichen Geschlechtsidentität – ohne Unterwerfung unter die jeweiligen hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen. Ein solch „kreativer“ Umgang mit Männlichkeit und Weiblichkeit begeistert zwar in hiesigen Gefilden die akademischen Freunde der Gender Studies, bedeutet jedoch in einem Land wie den Philippinen einen Akt erzwungener Anpassung: Wer als Schwuler seinen Status als Mann freiwillig abgibt, darf nicht nur leben, sondern bekommt sogar Applaus.

Diese Dimension, die mit den konkreten Verhältnissen auf den Philippinen zusammenhängt, blendet „Raquela“ völlig aus und konzentriert sich lieber auf eine wirre Handlung. Er thematisiert die kommerzielle und sexuelle Ausbeutung durch ausländische, westliche Firmen via Internetsex und die damit verbundenen Verwicklungen. Doch anders, als der Zuschauer ahnen soll, spielt all das weder in der Realität von Raquela noch der der allermeisten Ladyboys auf Cebu eine Rolle. Raquela selbst kennt im wahren Leben überhaupt nur einen Ladyboy, der mit so was überhaupt schon mal zu tun hatte – in völlig anderen Zusammenhängen allerdings. „Dramaturgische Überhöhung“, „Verdichtung“, „semifiktionale Übersetzung“? Gezeigt wird jedenfalls eine reale Figur, deren Lebenssituation nicht einfach nur nachgefilmt, sondern schlichtweg erfunden wurde. Die Lebenswirklichkeit Raquelas reicht einfach nicht aus, um die Bedürfnisse europäischer Zuschauer nach dem Schrillen und Schrägen zu erfüllen.

Umso erstaunlicher, dass nicht nur der Titel des Films behauptet, dass hier alles echt ist, hier wirklich die Geschichte dieser Raquela erzählt wird: Die Kamera schreit körnig und wackelnd nach Authentizität, die Hauptpersonen sprechen „O“-Töne direkt in die Kamera, und wenn es zum Sex mit einem Freier im Hotelzimmer kommt, wechselt das Bild investigativ in eine Art Nachtsichtkameramodus, der einem zunächst durch Videos illegaler Grenzübertritte an der EU-Ostgrenze, nunmehr aber auch durch den RTL-Dschungelcamp und „Big Brother“ vertraut ist. Eben.

In Wahrheit ist man jedoch in der Märchenstunde gelandet. Die ewige Mär vom edlen Wilden und dem weißen Bösen, der dessen Welt zerstört und/oder zynisch benutzt, wird den Menschen, die zu zeigen sie vorgibt, nicht nur nicht gerecht, sie nimmt ihnen auch ihre Würde, da diese Menschen entweder nur als Opfer vermittelbar erscheinen oder als überhöhte moralische Instanzen – oder beides. Wird das Opfertum dann noch als sexuelle Ausbeutung inszeniert (und wie bei Raquela sogar noch frei erfunden), läuft man vollends Gefahr, genau das Faszinosum erst zu erzeugen, das zu demaskieren man vorgibt.

Ein wenig Gender-Kitsch hier, ein wenig gefakte Ethno-Spirits dort – und nie die kritische Frage nach den tatsächlichen und eben auch eigenverantworteten gesellschaftlichen Umständen in den Ländern der „Dritten Welt“ stellen. Vordergründig scheinen ja auch alle davon zu profitieren: die Protagonisten fahren lieber auf einem merkwürdigen Ticket als auf gar keinem, und die Zuschauer sind dankbar für so viel glaubwürdig erlebbare Ignoranz. Und wenn sie nicht gestorben sind, geht es um den kleinstmöglichen kollektiven Erkenntnisgewinn: „We are human beings“ sagt Raquela in ihrem Film. Wirklich eine erstaunliche Wahrheit.

JOHANNES KRAM, 40, ist Marketing Manager und Autor. Er wohnt in Berlin, zuvor hat er drei Jahre in Asien gelebt und gearbeitet, darunter auch auf den Philippinen