Mit den Dämonen sprechen

Keine Angst vor filmreifen Gefühlen: Nach seinem fulminanten Debüt legt Clemens Meyer wortkarge Erzählungen vor. In „Die Nacht, die Lichter“ klirren leise die leeren Bierflaschen

VON KOLJA MENSING

Clemens Meyers Debüt war ein echtes Ereignis. Sein Roman „Als wir träumten“ erzählte die Geschichte einer Clique von ostdeutschen Autoknackern, Speedfreaks und Hooligans, die die Zeit zwischen dem erstem Jugendarrest und dem endgültigen Absturz mit Apfelkorn, billigen Drogen und Schlägereien überbrücken: Trainspotting in Leipzig-Ost. Clemens Meyer, damals gerade 29, wurde gefeiert und mit Preisen überschüttet. Aber er bekam auch die Peitsche des Betriebes zu spüren. Wenige Wochen nach dem Erscheinen seines Romans las er 2006 beim Bachmann-Wettbewerb eine Geschichte über einen alternden Häftling in Torgau. „Knastromantik“ und „Unterschichts-Kasperltheater“ spottete die Jury.

„Reise zum Fluss“ hieß die in Klagenfurt demonstrativ zurückgewiesene Kurzgeschichte. Leicht verschämt verbirgt sie sich jetzt im hinteren Teil von Clemens Meyers aktuellem Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ – und erwischt einen mit dem ersten Satz gleich umso härter. „Wir nannten ihn ‚Boxer‘, weil seine Nase so platt geprügelt war, dass sie fast in seinem Gesicht verschwand.“ Der junge Erzähler teilt sich mit dem Boxer eine Zelle, und als er für ein Wochenende Ausgang bekommt, bittet der alte Mann ihn, ein paar Schulden für ihn einzutreiben und das Geld seiner Tochter zu bringen: „Sie lernt noch, in ’nem richtigen Hotel. Da kriegt sie nicht viel.“ Doch die Tochter macht keine Lehre, schon gar nicht in einem Hotel. Sie arbeitet als Prostituierte. Ist es das, was der Boxer hören will? „Geht ihr gut“, sagt der Erzähler, als er am Montag wieder zurück in Torgau ist. „Hat sich gefreut, das Geld und so, hat sich richtig gefreut.“

„Reise zum Fluss“ ist die perfekte Shortstory, wortkarg und spannend bis zum letzten Satz. Clemens Meyer beherrscht sein Handwerk. Das ist klar. Darüber hinaus besitzt er Gespür für Pathos. Wenn der Erzähler im Gefängnis zusammen mit dem Boxer schweigsam am Fenster sitzt und durch die vergitterten Fenster das Licht der Hofscheinwerfer fällt oder er zuletzt, kurz bevor er zurück ins Gefängnis muss, eine Kippe in das dunkle Wasser der Elbe schmeißt, dann ist das genau das Maß an emotionaler Überwältigung, das man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst vergeblich sucht: ganz großes Kino.

Clemens Meyer hat keine Angst vor filmreifen Gefühlen. Ein Arbeitsloser setzt seine letzten 330 Euro beim Pferderennen, um seinen Hund beim Tierarzt behandeln lassen zu können; auf dem Balkon eines Wendeverlierers „klirren leise die leeren Bierflaschen“, während unten die Neonreklamen der Tankstelle leuchten, und am Ende einer Liebesgeschichte bleibt nichts als ein Blick auf die Böschung der Autobahn, „kleine Haufen Müll“, „Zigarettenschachteln und Papier“. Abfall für alle, mehr ist nicht drin. Ein besseres Leben bekommt keine der Figuren in den sechzehn Erzählungen. Doch die zahnlosen Trinker und ausgemergelten Stricher, die ausgebrannten Vertreter und 1-Euro-Jobber haben alle ihre Momente. Einen Blick aus einem Zugfenster in die Nacht. Einen Schluck aus einer billigen Flasche. Oder das hier: „Fahr die Gabel ganz hoch“, sagt Marion, die gerade erst wieder mal von ihrem Mann zusammengeschlagen worden ist. Und dann: „Lass wieder runter, aber ganz langsam.“ Christian, der im Supermarkt den Gabelstapler fährt, bewegt einen Hebel, und während Marion und er so nahe beieinander stehen wie ein Liebespaar, lauschen sie der austretende Luft der Hydraulikanlage und „es klang tatsächlich ein wenig wie das Rauschen der Wellen am Meer“.

Nicht jeder Satz ist so makellos. Manchmal übertreibt Meyer es. Dann träumt ein erfolgloser Boxer arg bescheiden von einem eigenen „kleinen“ Studio und abends glitzern in der Stadt die „vielen bunten Lichter“ wie in einem Kinderbuch. Und das Taxi („das Schild auf dem Dach leuchtete gelb“), das auf Seite 121 eine der zahllosen verlorenen Seelen zum Bahnhof bringt, kommt zwanzig Seiten weiter noch einmal zum Einsatz. Und zwar exakt in der gleichen Formulierung. Nur mal am Rand gefragt: Warum wird das Manuskript eines Autors, dessen erster Roman sich 40.000-mal verkauft hat, in einem angesehenen Verlagshaus eigentlich nicht anständig lektoriert?

Clemens Meyer hat andere Sorgen. Das ist sympathisch. Vor zwei Jahren war er noch hemdsärmlig aufgetreten, mit rasiertem Schädel und ausgestellten Tätowierungen. Auf dem Foto zu „Die Nacht, die Lichter“ gibt er dagegen den netten Schriftsteller von nebenan. Nach der Berg-und-Talfahrt zwischen dem Clemens-Brentano-Preis und der Klagenfurt-Ohrfeige scheint er zu ahnen, dass alles eitel ist auf Erden. Unter dem barocken Titel „Das kurze und glückliche Leben des Johannes Vettermann“ erzählt er darum in seinem neuen Band von einem Künstler, der aus einfachen Verhältnissen stammt und es zu Ruhm und Reichtum gebracht hat. Mittlerweile hat er das Malen jedoch aufgegeben, sein Geld verschleudert und liegt jetzt im Fieberwahn auf einem Bett im besten Hotel der Stadt. Links und rechts ein Mädchen, jede Menge Drogen auf dem Nachttisch und im Kopf tausend Dämonen und die Stimme des Teufels: „Die Kunst, nur die Kunst kann dich retten.“ Pathos, eben. Bitte mehr davon.

Clemens Meyer: „Die Nacht, die Lichter“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 265 Seiten, 18,90 Euro