Der Krieg und die Hühner

Pedantisch und hemmungslos in der Ausbreitung des Eigenen: „Somnia“, Walter Kempowskis Tagebuch von 1991, spielt mit dem Voyeurismus des Lesers

VON EVA BEHRENDT

Im Januar 1991 kam Post aus Nartum. Ich war 17 und hatte gerade Walter Kempowskis Tagebuchband „Sirius“ über das Jahr 1983 mit noch mehr Begeisterung gelesen als zuvor „Hundstage“, die fiktionalisierte Romanfassung desselben Sommers 83. Die Drucksache mit dem Programm der legendären Literaturseminare erhielt ich auf Anforderung, war aber so stolz, als hätten die Kempowskis mich persönlich ausersehen, ein Wochenende in Haus Kreienhoop mit Turmzimmer, Büchergang, Archiv, Hunden und Schafen zu verbringen. Hingefahren bin ich nie.

Dass mich als Teenager die Tagebuchprosa des 1929 geborenen älteren Herrn erreichte, erscheint mir heute leicht irre. Zumal der Autor nichts weiter beschrieb als den beschaulichen Alltag eines fleißigen deutschen Landschriftstellers, der seiner manischen Sammelleidenschaft und der Volksbildung frönt und dessen Fantasien bestenfalls onkelhaft genannt werden dürfen. Doch Kempowskis liebevoll spöttischer Blick auf sein Land und sich selbst als Vertreter eines aussterbenden Bürgertums erlaubte eben beides: Zuordnung zu einem bestimmten Milieu bei gleichzeitig lachender Distanzierung.

Es gab aber noch etwas anderes – nämlich das wahrnehmende Ich, das sich samt seines profanen Alltags frech als universellen Mittelpunkt setzte. Dabei beschränkte sich Kempowskis Neugier nicht auf die eigene Person, sondern erstreckte sich demokratisch auf Biografien und Erfahrungen anderer, aus denen er schnipselweise zitierte. „Das Echolot“, in dem der Autor seine Archivschätze zu einem Chorgesang zahlreicher, zumeist deutscher Stimmen über den Zweiten Weltkriegs komponiert, ist das letzte einer ganzen Reihe dokumentarischer Projekte. Als Kunstwerk war es bei seinem Erscheinen zwischen 1993 und 2005 umstritten, und doch begann etwa zur selben Zeit Kempowskis Rehabilitation als bedeutender deutscher „Volksschriftsteller“.

1948 verurteilten die Sowjets den Rostocker Kaufmannssohn wegen Verdachts auf Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager. In tatsächlich acht Jahren Bautzen rettete sich der Häftling durch Erinnerungen an seine nicht nur von den Nazis, sondern auch von bürgerlicher Kultur und Sprache geprägte Kindheit und Jugend. Diese Antitraumatisierungsstrategie hat Kempowski später schriftstellerisch in der vielbändigen „Deutschen Chronik“ weitergeführt. In den 70ern und 80ern galt er, der kein gutes Haar an der von der bundesrepublikanischen Linken verklärten DDR ließ, tendenziell als Reaktionär. Erst als das wiedervereinigte Deutschland auf einer neuen Historisierungswelle surfte und Täterkinder anfingen, sich an Nazieltern und Feuerstürme zu erinnern, konnte auch der Pädagoge aus dem Bremer Umland als verdienstvoller Vorreiter mit Preisen und feuilletonistischen Hymnen gefeiert werden.

„Das Allerprivateste ist immer das Allgemeinste“, formulierte Kempowski in einem Interview im DVD-Bonusmaterial von Eberhard Fechners „Tadellöser & Wolff“-Verfilmung. Auch deshalb konnte er seinem Individualismus hemmungslos frönen, sich selbst und seine Umgebung inszenieren. Im jetzt postum erschienenen Tagebuch „Somnia“ aus dem Jahr 1991, das wie die Vorgänger „Sirius“, „Alkor“ und „Hamit“ Jahre später vom Autor überarbeitet wurde, kann man noch einmal in diese Welt eintauchen, die selbstverständlich den Spagat zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen probt, mit dem Voyeurismus des Lesers spielt, ohne wirklich Intimes preiszugeben.

Der passionierte Fernsehgucker Kempowski notiert und kommentiert dort kritisch den reflexhaften Pazifismus der Deutschen beim ersten Golfkrieg Anfang 1991, und später im Jahr, eher fassungslos als polemisch, das unspektakuläre Verpuffen der Sowjetunion. Gleichzeitig meditiert er über Hühner und Hunde, empfängt Gäste und reist in den Osten, sammelt „Wiedervereinigungsplankton“, arbeitet an mehreren Buchprojekten und feilt mit Gattin Hildegard an der Vervollkommnung eines weiteren Kunstwerks, des eigenen Hauses Kreienhoop.

Er ist nicht immer sympathisch, dieser deutsche Dichterkauz, der außerdem die Rolle des Pedanten spielt, der alle Gegenstände im Haus schätzt und inventarisiert, des Literatur-Unternehmers, der die Kundschaft in seinen Seminaren mit Misstrauen und Wohlwollen betrachtet, und des Patriarchen, der seine Eitelkeit heroisch mit Humor in Schach hält. Wie zielsicher sich Kempowski als Künstler und Spießer inszenierte und ironisierte, zeigt allerdings noch besser der Roman „Letzte Grüße“, wo etwa die ungemein praktische und vollkommen geschmacksfreie 20-Taschen-Allwetterjacke, die sich der Autor 91 real zulegt, an seinem Alter Ego Alexander Sowtschick gebührend gewürdigt wird.

Schon in „Sirius“ wurde ein liberaler Lebensentwurf greifbar, der Bürgerliches und Künstlerisches miteinander versöhnt, bei allem Geschichtsbewusstsein der Gegenwart zugewandt und befeuert vom fröhlich gebrochenen Pathos der alten Bundesrepublik. In „Somnia“ scheint er noch einmal auf, eingetrübt von den Vorboten des Alters und des Todes – aber auch einer neuen Zeit.

Walter Kempowski: „Somnia. Tagebuch 1991“. Knaus, München, 557 Seiten, 24,95 Euro