Prager Frühling: Jederzeit bereit und stets stumm

Das "Tagebuch einer Krise 1968 bis 1970" des Sozialhistorikers Hartmut Zwahr bietet eine einzigartige Geschichte des Prager Frühlings.

Der Prager Frühling: Die Sowjet-Panzer rollen. Zwahr schreibt Tagebuch. Bild: dpa

Hartmut Zwahr gehört zu jener Handvoll Sozialhistoriker, deren in der DDR erschienene Aufsätze und Bücher lesbar sind. Denn sie haben mit dem dogmatischen "marxistisch-leninistischen" Gerede der meisten DDR-Historiker nichts gemein. Sein Opus magnum - "Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte" - schloss er im März 1989 ab und konnte es nach der Wende unverändert erscheinen lassen. Einige seiner Aufsätze zur Sozialgeschichte finden sich schon in den 80er-Jahren in Sammelbänden, die im Westen publiziert wurden.

Der 1936 geborene Zwahr, zuletzt Professor in Leipzig, führte während seiner Assistenten- und Oberassistentenzeit Tagebuch. Den 340 Seiten starken Teil für die Zeit von 1968 bis zum Frühjahr 1970 veröffentlicht Zwahr jetzt unverändert, aber mit fast 1.000 sachdienlichen Anmerkungen und Kommentaren, die das Buch zu einer ganz einzigartigen Geschichte des "Prager Frühlings" machen. Zwahr lebte damals mit seiner Frau Annette, die im VEB Bibliographisches Institut (dem Brockhaus-Erben in der DDR) arbeitete, in Leipzig. Ihre tschechischen Sprachkenntnisse erlaubten ihnen, sich anders als über die von der SED kontrollierten Medien zu informieren. Sie hörten oft tschechische Radiosender, und Zwahr las täglich das Hauptorgan der tschechoslowakischen Reform-Kommunisten, den Rudé právo.

Bis 1967 gab es in der DDR ganze drei parteilose Historiker: Der Nestor Walter Markow war als Widerstandskämpfer keinerlei Druck ausgesetzt, in die SED einzutreten, wurde aber 1968 kaltgestellt. Die beiden anderen - Eberhard Wolfgramm und Winfried Trillitzsch - waren Außenseiter und blieben unbehelligt. Zwahr wurde 1967 mit "gereizten Anfragen" faktisch zum Parteieintritt gezwungen. Er bedauerte den Schritt und schämte sich dafür. Wie viele seiner Kollegen verhielt er sich zurückhaltend, beteiligte sich jedoch weder an kriecherischer Selbstverleugnung noch an Denunziationen und Verrat.

Der im Januar 1968 begonnene Reformprozess in der CSSR elektrisierte Zwahr förmlich, denn er litt, wie er im März ins Tagebuch schrieb, unter der "Deformierung des Sozialismus": "Wir wollen nicht westliche Verhältnisse", sondern "sozialistische Politik", also "Verbindung von Sozialismus und Demokratie." Nach der völkerrechtswidrigen Intervention der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968 unter dem restlos verlogenen Vorwand "internationaler Hilfe" gegen "die Konterrevolution" stand Zwahr unter Schock, aber er verlor die Hoffnung nicht.

"Erst wenn der Funke in der Sowjetunion selbst aufflammt, denke ich, wird er nicht mehr ausgetreten werden können", notierte er einen Tag nach dem Einmarsch und nach durchwachter Nacht morgens um halb sieben in sein Tagebuch. Das Geschehen fesselte ihn so, dass parallele Ereignisse wie der Krieg in Vietnam, die Attentate auf Rudi Dutschke, Robert Kennedy und Martin Luther King, die Notstandgesetze sowie die Studentenbewegungen im Westen fast gar nicht vorkommen.

Den Fortgang der Prager Ereignisse kommentierte Zwahr umso genauer und sah in ihnen einen moralischen Sieg der Reform- gegen "die Panzerkommunisten". Er glaubte, dass selbst eine militärische Niederlage nicht in der Lage wäre, den Aufbruch und Ausbruch aus dem halbstalinistischen Gefängnis aus den Köpfen und Herzen der Menschen zu tilgen.

Zwahr kritisierte jedoch nicht nur den wirtschaftlichen Leerlauf, die trostlose Versorgungslage und "die irrsinnige Schießerei an der Mauer", sondern ebenso den akademischen Betrieb. Von einer Verbindung von Forschung und Lehre konnte keine Rede sein. Neunzig Prozent der Arbeitszeit wurden verschleudert in Sitzungen von Partei-, Gewerkschafts- und Hochschulgremien, "Anleitungen", "Orientierungen" und "Schulungen". "Und was wird geleistet, außer dass wir den Studenten einen Maulkorb anlegen, nach dem unsere Marxismus-Leninismus-Studenten allerdings geradezu hungern?" Über die Karriere an den Universitäten entschied allein die Nähe zur Partei und nicht die Qualifikation. "Viele sind froh, dass sie in der Woche dreimal Partei und einmal Gewerkschaft haben, da brauchen sie nicht wissenschaftlich zu arbeiten." Andere retteten ihre Stelle oder ganze Institute mit taktisch geschickt platzierten Ulbricht-Zitaten.

Vom ZK wurde den Leipziger Historikern bescheinigt, sie seien "ungenügend" in der propagandistischen Nebelwerferei im Namen einer nur in "Dokumenten, Broschüren und Beschlüssen" existierenden "Arbeiterklasse". Diese war, so Zwahr sarkastisch, "jederzeit erreichbar, einsatzbereit und in Bewegung" zu setzen, blieb aber immer stumm. Wissenschaftler wurden so zur "Agitationsreserve der Partei" degradiert. Zwahr verspottet die akademischen Rituale, mit denen "die sozialistische Demokratie" als "ein sich selbst organisierendes und selbst regulierendes System" in eine Scheinbewegung gesetzt wurde.

Der Autor versteckt sich nicht, sondern nennt viele Akteure bei vollem Namen, andere Figuren jedoch mit verändertem oder nur mit Vornamen, aber immer so präzis beschreibend, dass sich die Direktbeteiligten jederzeit erkennen können: "Ja, ich bins, der so redete." Dieses Verfahren zielt nicht auf einen denunziatorisch-voyeuristischen Blick durchs Schlüsselloch, sondern Zwahr will denen, die ihre Macht schamlos genossen, "die Maske vom Gesicht" reißen und aufklären über demütigende Herrschaftspraktiken.

Dass sich Zwahr über die Perspektiven des "Prager Frühlings" bis zuletzt getäuscht hat, wusste und weiß er: "Wer Tagebuch schreibt, bleibt seinen Irrtümern verbunden." Aber das mindert den Rang des Buchs als eines Dokuments des schwierigen Lebens und Überlebens in einer Diktatur in keiner Weise. Der letzte Eintrag stammt vom 20. April 1970 und enthält den weisen Rat von Annette Zwahr, die ihren Mann öfters vor verbalen Dummheiten bewahrte: "Schlafe du mehr, nur so wirst du die überleben, die dich schnicken." Man kann dem ebenso offenen wie im besten Sinne lehrreich-aufklärerischen Buch nur viele Leser wünschen - besonders unter den Selbstgerechten im Westen. RUDOLF WALTHER

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