Schule des Grauens

Die Journalistin Margalith Kleijwegt hat ein packendes Buch über jugendliche Migranten, überforderte Eltern und die Diskriminierung in den Niederlanden geschrieben

VON DANIEL BAX

Die niederländische Journalistin Marghalit Kleijwegt bewies den richtigen Instinkt, als sie sich Ende 2003 zu Recherchen an eine Schule in Amsterdam-West begab. Ein Jahr später ermordete ein Jugendlicher aus genau diesem Bezirk den Filmemacher Theo van Gogh. „Das Viertel des Mohammed B.“ lautete der Untertitel, mit dem der Verlag ihr Buch in den Niederlanden auf den Markt warf. Es wurde ein Bestseller.

Das Buch passt in die Debatten dieser Zeit. Ob es um islamistische Radikalisierung, die Bildungsmisere oder alltägliche Jugendgewalt geht – immer geht es dabei auch um die Frage, wie es in Einwandererfamilien zugeht. Das Calvijn met Junior College in Amsterdam-West gilt im holländischen Slang als „schwarze Schule“, weil fast 90 Prozent der Schüler einen „Migrationshintergrund“ haben. Margalith Kleijwegt hat hier eine achte Klasse begleitet und 19 der Schüler zu Hause aufgesucht. Das Resümee ihrer Beobachtungen und Gespräche erscheint nun auf Deutsch unter dem Titel „Schaut endlich hin!“.

Margalith Kleijwegt hat genau hingeschaut, ihre dichte Beschreibung macht das Buch zur packenden Lektüre. „Unsichtbare Eltern“ lautete der Titel im holländischen Original, er spielt auf den Mangel an elterlicher Autorität in vielen Einwandererfamilien an. Dabei hat es die Elterngeneration, die es einst eines besseren Lebens wegen aus der Türkei, aus Surinam oder Marokko nach Holland zog, durchaus zu etwas gebracht: Nicht wenige der Familien, die Kleijwegt zu Hause besuchte, haben sich in der alten Heimat sogar ein Haus gebaut. Doch ihre Kinder haben in der neuen Heimat oft keine Perspektive, sie wirken wie eine verlorene Generation. Manche Jugendliche flüchten sich in Resignation oder Drogen. Andere sind rüpelhaft und gewalttätig.

Kleijwegt schildert den trostlosen Alltag am Calvijn met Junior, den Fatalismus vieler Lehrer und die Realitätsverleugnung vieler Eltern, die nicht wahrhaben wollen, dass ihre Sprösslinge in der Schule versagen. Das Buch schlug in den Niederlanden entsprechend hohe Wellen und katapultierte das Calvijn met Junior College ins Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit.

Aus Kleijwegts Buch lässt sich auch für deutsche Integrationsdebatten lernen. Schließlich existiert auch hier eine ethnisch geprägte Unterschicht, die gerne mit dem Schlagwort „Parallelgesellschaft“ umschrieben wird. In Holland dürfte die Segregation auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt sogar noch krasser sein: Im Vergleich zu homogenen Neubaughettos wie Amsterdam-West jedenfalls wirkt ein deutscher „Problembezirk“ wie Berlin-Neukölln noch immer geradezu wie ein Muster multikultureller Durchmischung.

Das Bild, das Kleijwegt von den Niederlanden zeichnet, ist auch nicht sehr schmeichelhaft. Fast alle Einwanderer, die sie getroffen hat, schildern Fälle von Diskriminierung durch Lehrer, Behörden oder Busfahrer. Manche Familien wollen dem Ghetto entfliehen, wünschen sich gemischte Schulklassen und eine bessere Bildung für ihre Kinder. Doch sie stoßen an unsichtbare Wände.

Zwiespältig sieht Kleijwegt die Rolle des Islam. Negativ bewertet sie den Einfluss von arabischen Satellitensendern wie Iqra TV, die den ganzen Tag lang ein streng religiöses Fernsehprogramm ausstrahlen. Ihre Darstellung des saudischen Senders, den sie praktisch zum antisemitischen Hasssender stempelt, ist zwar etwas überzeichnet, ihre Befürchtung, solche Programme könnten unter muslimischen Einwanderern die Angst vor der westlichen Welt und den Rückzug in die eigene Gemeinschaft befördern, kann man aber nur teilen.

Andererseits zeigt ihre Reportage aber auch, dass Religion für manche Einwanderer durchaus eine Stütze sein kann. Das gilt etwa für den jungen Bekir Erdogan, der in einem „islamischen Internat“ wohnt, wo ihm ältere Betreuer bei den Schularbeiten zur Seite stehen, und der nur die Wochenenden bei seinen Eltern verbringt. Am Calvijn met Junior ist er Klassenbester.

Angesichts dessen fällt Kleijwegts Fazit überraschend schlicht aus. Obwohl sie zuvor fast auf jeder Seite feststellt, wie sehr viele Migranteneltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind, schließt sie am Ende des Buches mit einem Appell an ebendiese Eltern, doch bitte mehr Verantwortung zu übernehmen.

Dabei scheint es vielen Eltern, wenn man ihren Schilderungen glaubt, gar nicht so sehr an Problembewusstsein zu mangeln oder am Willen, etwas zu ändern; eher schon an den Möglichkeiten. Und das Beispiel des „islamischen Internats“ zeigt, wie eine religiöse Einrichtung eine Lücke zu füllen vermag, wo das holländische Schulsystem offenkundig versagt. Genauso gut könnte man also fragen, wie sich das holländische Schulsystem verbessern lässt. Doch diese Frage stellt Margalith Kleijwegt nicht.

Ein wenig störend ist deshalb der hohe moralische Tonfall, der an manchen Stellen des Buches anklingt. So äußert sich die Autorin empört darüber, dass sich manche Eltern nicht mit ihr treffen wollten. Und erschüttert ist sie, als manche Schüler offen Sympathien für den Mörder von Theo van Gogh bekunden. Zugleich betont Kleijwegt stolz, dass sie häufig „die erste Niederländerin“ war, die diese Familien zu Hause besucht hat. Das allerdings sagt auch eine Menge über die niederländische Gesellschaft aus – und zeigt, dass die viel gepriesene „Toleranz“, auf die man in Holland lange Zeit so stolz war, nicht viel mehr war als Wegschauen und Ignoranz.

Margalith Kleijwegt: „Schaut endlich hin! Wie Gewalt entsteht. Bericht aus der Welt junger Immigranten“. Aus dem Niederländischen von Rosemarie Still. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2008, 192 Seiten, 16,90 Euro