„Plötzlich wird das Morden zur sozialen Tat“

HORST-EBERHARD RICHTER, 84, ist Psychoanalytiker und Psychosomatiker. Er gilt vielen als der „große alte Mann“ der bundesdeutschen Friedensbewegung. Seit 1962 lebt und arbeitet der gebürtige Berliner und Fußballfan (Hertha BSC) in Gießen. Er baute das Psychosomatische Universitätszentrum auf, dessen Direktor er wurde. Von 1992 bis Dezember 2002 leitete er das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut. Im Jahr 1981 wurde Richter mit seiner Satire „Alle redeten vom Frieden“ zu einer der Leitfiguren der Friedensbewegung. Im selben Jahr gehörte er zu den Gründern der westdeutschen Sektion der Ärzte gegen den Atomkrieg. 1985 wurde die Organisation, deren Ehrenvorsitzender er ist, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien von Richter das Buch „Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft“. Kürzlich wurde er Ehrenbürger von Gießen, was die örtliche CDU jahrelang verhindert hatte.

INTERVIEW THOMAS EYERICH
UND THILO KNOTT

taz: Herr Richter, Sie waren als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg. Da haben Sie den Tod erlebt.

Horst-Eberhard Richter: Reichlich.

Erzählen Sie.

Ich kam im Spätwinter 1942 nach Russland. Ich weiß noch genau, wie wir bei der Frühjahrsoffensive an eine grüne, herrliche Wiese kamen. Wunderschöner Sonnenschein. Und da lag vor mir ein blonder, deutscher Soldat. Bäuchlings in dem grünen Gras. Er sah völlig intakt aus. Die Uniform, sein wallendes, blondes Haar. Ich dachte erst, er sei ohnmächtig. Ich drehte ihn um – sein Gesicht war vollkommen weggeschossen. Das war am ersten Tag unseres großen Angriffs. Das Bild bin ich nie mehr losgeworden.

Haben Sie getötet?

Ja, natürlich.

Natürlich?

Ich war bei der Artillerie. Als Richtkanonier. Die Haubitze war eine LFH-18 mit Schubkurbelflachkeilverschluss und Rohrrücklauf-Fahrbremse. Das weiß ich noch ganz genau. Ich bekam Kommandos, wie ich das Kanonenrohr einstellen sollte. Mit welcher Entfernung. In welchem Winkel. Das war meine Aufgabe. Mit dem Ding schossen wir fünf, sechs, bis zu zehn Kilometer weit. Erst später, beim Nachrücken auf dem Vormarsch mit unseren Geschützen, haben wir gesehen, was wir angerichtet haben.

Was haben Sie gesehen?

Tote russische Soldaten. Tote Frauen. Tote Kinder.

Das sieht man dann – und schießt weiter?

Es gibt nur wenige Momente, wo man so etwas wie Scham hat.

Welche waren das?

Ich war mal mit einem Kameraden für ein paar Tage in einer russischen Bauernhütte untergebracht. Draußen war ein Schacht mit Stämmen drauf. Das war das Klo. In dem Raum wurde gekocht und geschlafen. Alles fand da statt. Die Familie, das war ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern und einem Baby. An der Decke hing an Seilen eine Wiege mit dem Baby drin. Auf dem Ofen saß eine Oma, die stundenlang abends diese Wiege in Gang gehalten und dazu gesungen hat. Anfangs waren die Leute über unser Eindringen erschrocken.

Nur am Anfang?

Na, sie haben dann gemerkt, dass wir eigentlich gutartige junge Leute sind. Und auf einmal hatten die keine Angst mehr vor uns. Ich fand die so liebenswürdig, dass ich zu meinem Kameraden sagte: Guck dir die mal an und guck dir uns mal an, was wir hier eigentlich machen. Auf die schießen wir hier! Da habe ich mich geschämt. Immer wenn wir später wieder auf dem Vormarsch waren, habe ich mir diese Familie vorgestellt. Da ist mir klar geworden: Ich muss irgendwas in mir vorübergehend abtöten, sonst halte ich das nicht aus.

Dann haben Sie das ausgehalten?

Man kühlt ab. Als ob irgendwas in einem erfrieren würde. Stellen Sie sich vor, man kann dann in einer Gefechtspause ruhig essen, auch wenn da um einen herum Tote liegen. Man hat Appetit, kann jederzeit pennen. In meiner Sicht findet da eine Verrohung statt, die Abscheu und Mitleid reduziert. Es ist eine Reduzierung des Sensoriums und die Abtötung der Sensibilität. Man bewegt sich so automatisch – wie ein Roboter. Und ich konnte sogar auch jeden Tag irgendwo in einer Pause ein paar Minuten lesen. Reclam-Heftchen, Hölderlin, was Romantisches, um eine andere Welt hochkommen zu lassen. Das war dann immer wie ein kleiner Urlaub.

Heißt das, dass Sie überhaupt keine Todesangst hatten?

So eine tiefe Angst hat man gar nicht. Man hat gar nicht die Zeit dazu. Man ist so funktional eingestellt, dass man in jeder Sekunde überlegt: Was muss ich tun? Es gibt da nur Kommandos und Feuer und fertig. Man bewegt sich so, als wäre es Routine. Egal ob neben einem Leute tot da liegen, sterben oder jammern. Eine hektische Pragmatik.

Keinerlei Hemmungen?

Sie meinen Tötungshemmungen?

Ja.

Nein. Das ist fast wie in diesem Charly-Chaplin-Film.

Wie in „Modern Times“?

Genau. Als Soldat wird man wirklich zum reinen Werkzeug. Es ist schwierig, dieses mechanische Leben zu beschreiben. Es hilft jedenfalls. Wir in der Psychoanalyse nennen das Regression. Die Niveausenkung des psychischen Apparats. Die Ausschaltung des Gewissens, um das innere Gleichgewicht zu bewahren. Man wird auf Stand-by reduziert.

Und heute? Wo wieder deutsche Soldaten im Kampfeinsatz sind?

Heute ist das anders. Heute wird das Sterben und Töten zum Schützen und Helfen.

Wie meinen Sie das?

Der Jung hat eine Sprachtechnik, die dem Soldaten pausenlos in den Kopf hämmert: Du bist ja nur dazu da, um zu schützen. Du bist ja nur dazu da, um die anderen nicht im Regen stehen zu lassen. Der Kohl konnte das auch. Es wäre gemein, wenn wir Deutschen jetzt nicht den anderen Nato-Soldaten helfen würden.

Eine Art sprachliche Umwidmung?

Der Verteidigungsminister kann das fabelhaft. Es gibt eine karitative, moralisierende Logik, in der das Töten und das Schießen und das Morden umgekehrt werden zu einer guten, sozialen Tat.

In Afghanistan.

Genau. Das hat Jung jetzt wieder gesagt: Auch wenn wir jetzt nicht im Süden Afghanistans kämpfen, werden wir den Amerikanern – und wer da noch alles in Not ist – beistehen, helfen und sie nicht alleine lassen. Also für mich ist das ganz fantastisch. Diese caritativ-therapeutische Sprachwelt, die da auftaucht, nur um das Gegenteil von dem zu suggerieren, was wirklich passiert. Alles dient nur dazu, das Böse abzuwenden.

Defensiv ist doch auch der Satz: „Deutsche Interessen werden am Hindukusch verteidigt.“ Warum sagt man denn nicht die Wahrheit – und zwar: Soldaten töten und sterben doch auch in Afghanistan.

Ja. Aber dieser Gedanke strengt zu sehr an. Sehen Sie mal: der Bush. Der hat den Irak angegriffen, um die Welt zu beschützen und um Amerika zu beschützen. Jetzt hat er gesagt: Wenn man im Iran nicht für Ordnung sorgt, dann wird der Iran die ganze Welt bedrohen. Er malt einen nuklearen Holocaust an die Wand. Die gesamte kulturelle Mentalität bei uns, repräsentiert durch Bush oder durch Jung oder durch Schäuble, ist eingestellt auf eine gespaltene Welt. Und wenn man sich den ersten Kreuzzug mal anschaut, dann war das schon damals ganz genauso. Papst Urban der II. hat im Jahre 1095 in Clermont eine Rede gehalten mit der Botschaft: Entweder ihr seid auf unserer Seite, der Seite Gottes, oder ihr seid auf der Seite der gottlosen Schurken und Muslime. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?

George W. Bush hat das in leicht abgewandelter Form nach den Anschlägen vom 11. September gesagt.

Ja.

Das ist Carl Schmitt in Reinform.

Ja.

Das Freund-Feind-Schema.

Ja.

Und wir hier im Westen sind natürlich die Guten.

Genau. Das geht ziemlich tief rein. Das manichäische Weltbild kann man sich so erklären, das ist nun auch ein bisschen meine Forschung, dass uralte, archaische Instinkte oder Anlagen zum Vorschein kommen. Es ist nicht nur die Bereitschaft, sich diese einfache Welterklärung gefallen und auch befehlen zu lassen. Sondern rattenfängerartig wird eine Hörigkeit ausgelöst, die dann massenpsychologisch dazu führt, dass es geradezu als Erlösung empfunden wird, vom eigenen Gewissen befreit zu sein. Ein absolutes Feindbild ist nötig, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben.

Das Interview mit Horst-Eberhard Richter ist ein Vorabdruck aus dem neuen taz-Journal Endlich. Tod – kein Tabu mehr. Endlich erscheint am 26. Oktober.

Die Themen u. a.: Warum muss die Mutter ohnmächtig zuschauen, wie ihr unheilbar krebskranker Sohn verhungert – nur weil es in Deutschland keine Sterbehilfe gibt? Wer hilft den Eltern, wenn sie über den Tod ihres noch ungeborenen Kindes entscheiden sollen? Und: Der Kabarettist Josef Hader über die Frage: Ist Witz eine Waffe gegen Tod?

Das neue taz-Journal hat 96 Seiten und kostet 7 Euro. Sie können es auf der Homepage www.taz.de/endlich oder per Mail unter tazshop@taz.de, per Telefon unter (030) 2 59 02-138 oder per Fax unter (030) 2 59 02-564 bestellen.

Wer ist der Rattenfänger?

Na Bush. Und zwar ein Rattenfänger, der sogar von Gott beauftragt ist, wie Bush immer betont. Die Amerikaner hatten ihr Flugzeug, das die Atombombe auf Hiroschima abwarf, christlich eingesegnet. Und es gibt ein Atom-U-Boot, das allein schon ganz Europa vernichten kann, das heißt »USS City of Corpus Christi«. Das muss man sich mal vorstellen. Ein U-Boot mit dem Namen Corpus Christi. Also ist man sich nicht nur mit Bush einig, sondern auch mit Gott. Aber was wäre das für ein Gott!

Und die deutsche Regierung hängt sich dran mit ihrer „Bündnispflicht“?

Hier wird doch auch vieles pseudoreligiös verklärt. Nehmen Sie doch nur mal den Vorstoß von diesem Jung, Flugzeuge wegen einer möglichen terroristischen Gefahr präventiv abzuschießen.

Wieso hat das etwas Religiöses?

Weil sich die sagen wir mal 100 Passagiere in dem Flugzeug opfern müssen. Es wäre ein Opfertod zum Wohle des Vaterlandes. So wird das dargestellt. Analytisch betrachtet argumentiert Jung wie einer, der den Gehorsamstod fordert. Freud hat auch vom Unterwerfungstod gesprochen. Unterwerfung unter das Freund-Feind-Schema des Großen Bruders. Und es hat auch etwas Heroisches.

Wir Deutschen wollen wieder auf der Seite der Helden stehen?

Ja, klar, es gibt doch nichts Schlimmeres als den Vorwurf, ein Weichei zu sein. Erst durch den Krieg wird der Mann zum Mann. Das war meine Kindheit, das war meine Schulausbildung. Wir waren pausenlos der Verehrung der Helden des Ersten Weltkriegs ausgesetzt. Und dass der Junge erst dann ein richtiger Mann wird, wenn er kämpft und die Fahne mehr ist als der Tod. (singt) Und die Fahne ist mehr als der Tod.

Das war zu Ihrer Zeit. Aber doch nicht mehr heute?

Also ich nenne Ihnen da jetzt mal ein Beispiel. Zwei Wochen vor der berühmten UNO-Sitzung, die über den Irakkrieg entschied, saß der damalige französische Außenminister Villepin mit seinem amerikanischen Amtskollegen Powell zusammen. Powell wollte Villepin beschwatzen, dass die Franzosen beim Krieg mitmachen sollten. Villepin aber blieb standhaft. Anschließend sagte der Powell vor Vertrauten: „Dieser Villepin ist ein schauderhaft weibischer schwächlicher Mann.“ Jedenfalls hat Powell die Weigerung der Franzosen, im Irak mitzuschießen, gleichgesetzt mit Unmännlichkeit. Zehntausende von Irakern mit einer erlogenen Begründung zu töten – soll das heißen, einen Männlichkeitstest bestanden zu haben?

Die Bundesregierung ist heftig darum bemüht, diesem Weichei-Image entgegenzuwirken. Jetzt wird in Berlin ein Ehrenmal gebaut mit der Inschrift: „Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit.“ Ein tauglicher Versuch?

Wie kann man behaupten, dass die Soldaten in Afghanistan für Frieden und Freiheit ihr Leben verloren haben? Nach sechs Jahren Krieg ist doch der Frieden so fern wie unter der sowjetischen Besatzung. Und Freiheit? Nicht mal die Soldaten können sich außerhalb der hochmilitarisierten Zentren frei bewegen. Die deutsche Bevölkerung hat bei fast allen Umfragen erklärt, dass sie von der militärischen Verteidigung unserer Interessen am Hindukusch nichts hält. Und stetig wächst der Unmut über die unbeirrten Anstrengungen von Jung und Schäuble, das noch an der Vergangenheit arbeitende deutsche Bewusstsein planvoll zu remilitarisieren.

Der pure Zynismus?

Totengedenken ist in Ordnung. Noch immer träume ich selbst vom Krieg. Ein Traum, der sich in ähnlicher Form mehrfach wiederholt hat, lautet: Man übergibt mir die Habseligkeiten eines gefallenen Soldaten. Es ist, als würde ich gerade von der Front nach Hause entlassen. Ich soll die Sachen den Angehörigen bringen, aber frage vergeblich und verzweifelt nach deren Adresse. Ich übernehme die Last, aber weiß nicht, wohin damit. Mir scheint, dass dieser Traum keine Deutung benötigt.

Das sind Schuldgefühle?

Nachdem ich kurz vor Stalingrad in ein Lazarett gekommen bin und dort die Tragödie am Radio verfolgt habe, bin ich nicht mehr den Gedanken an die 200.000 losgeworden, deren grausamen Schicksal ich entgangen bin. Die sind ein Gepäck, das ich immer noch mit mir herumtrage. Dazu die Bilder meiner Eltern, standhaft gegen Naziverführung, aber dann von Russen erstochen, meiner Mutter wegen. Was aber hatten wir selbst in Russland angerichtet? So bin ich dazu gekommen, in der Friedensbewegung gegen die „Krankheit Friedlosigkeit“, wie das Carl Friedrich von Weizsäcker genannt hat, zu forschen und zu kämpfen.