Die Grünen: Nie wieder Göttingen

In drei Wochen soll ein Grünen-Parteitag in Nürnberg neue Grundsätze zur Sozialpolitik verabschieden. Schon jetzt sind Parteifunktionäre um Deeskalation bemüht.

In Nürnberg soll die Parteispitze nicht ins Schwitzen kommen Bild: dpa

Wenn Steffi Lemke derzeit in der Provinz unterwegs ist, dann hat sie einen klaren Auftrag: Die Bundesgeschäftsführerin der Grünen soll im Vorfeld des Parteitags rechtzeitig für Deeskalation sorgen. Denn die größte Sorge der Grünen-Spitze in Berlin heißt derzeit: "Göttingen II". Sie fürchtet, dass der Parteitag Ende November in Nürnberg ähnlich eskaliert wie die Sonderdelegiertenkonferenz zu Afghanistan, die Mitte September in Göttingen stattfand.

Die Grünen wollen "die Realität von Hartz IV durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung überwinden". Diese richtet sich - im Gegensatz zum bedingungslosen Grundeinkommen - an Menschen, die Hilfe nötig haben, und setzt eine Bedürftigkeitsprüfung voraus. Zur grünen Grundsicherung gehören: ein erhöhter Regelsatz von 420 Euro, für Kinder auf 300 bis 350 Euro und langfristig bedingungslos, Mindestlöhne sowie die progressive Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich. Auch gehören dazu bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten: Bis zu 400 Euro soll jeder zweite Euro anrechnungsfrei bleiben, darüber dürfen höchstens 20 Prozent behalten werden. Jugendliche sollen die Möglichkeit haben, einen Schulabschluss nachzuholen. Außerdem: mehr öffentlich finanzierte Arbeitsplätze für Geringqualifizierte; Individualisierung von staatlichen Leistungen (Einkommen von Partnern darf keine Rolle spielen); von der Einkommenssteuer unabhängige Zahlung der Kranken- und Rentenversicherung sowie eine Brücken-Existenzsicherung, die für eine begrenzte Zeit ohne Gegenleistung Hilfe bietet. KK

Kürzlich reiste die Bundesgeschäftsführerin sogar zum Länderrat des Landesverbands Nordrhein-Westfalen - normalerweise eine in Berlin wenig beachtete Veranstaltung. Den teils erstaunten, teils amüsierten Delegierten stellte sie dort das neue Parteilogo vor. Nicht dass die Grünen nicht andere Sorgen hätten als einen Schriftzug mit Sonnenblume. Aber man weiß nie: In der momentan angespannten Stimmung könnte die Basis für jedes Thema dankbar sein, das zur Palastrevolte taugt.

Zum Beispiel die Sozialpolitik, das große Thema des Parteitags. Es gibt bei den Grünen zwei Vorstellungen von guter künftiger Sozialpolitik. Partei- und Fraktionsspitze sind diesmal einer Meinung: Sie plädieren für die "grüne Grundsicherung".

Eine Steilvorlage für alle diejenigen, die das Führungsquartett erneut abstrafen wollen, glauben viele: Sie müssen nur mehrheitlich dem Gegenvorschlag zustimmen. Denn der wirbt für das "grüne Grundeinkommen". Vorsichtshalber kündigte dessen prominentester Befürworter, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, schon mal an, er stehe nicht als Königsmörder zur Verfügung. Auch der Bremer Senator Reinhard Loske warnt davor, die Sachdebatte wie beim Afghanistan-Thema für Machtspiele zu missbrauchen (siehe Interview.)

Doch so einfach ist es nicht. Denn die Linien verlaufen diesmal nicht zwischen rechts und links und auch nicht zwischen oben und unten. So wollen die Baden-Württemberger - ein ausgesprochener Realo-Landesverband - einen Antrag für ein Grundeinkommen von 420 Euro im Monat einbringen. Auf dem Landesparteitag hatten dessen Befürworter ihre Argumente plausibel mit Zahlen belegt. "Wir konnten unsere Forderung ernsthaft ökonomisch begründen und wurden nicht als linke Spinner abgetan", erklärt Thomas Poreski, der sich seit Jahren mit dem Thema befasst.

Im eher linken Landesverband Berlin fand das Grundeinkommen dagegen keine Mehrheit. Dort argumentierten Delegierte, ein bedingungsloses Grundeinkommen nutze weniger den wirklich Bedürftigen als der Mittelschicht.

Was also eine Protestposition sein könnte, ist unklar. Vom Helden des Göttinger Parteitags Robert Zion hört man daher auch kaum etwas. "Es wird diesmal keine Globalalternative geben, die man gegen den Vorstand durchsetzen will", sagt Arvid Bell von der Grünen Jugend. Erstens stecke die Parteilinke in dem Dilemma, dass ein Teil für die Grundsicherung, ein anderer Teil für das Grundeinkommen plädiert. Zweitens wollten die Initiatoren des Göttinger Gegenantrags nach ihrem überraschenden Erfolg nun die Wogen glätten. Drittens mahnten linke Landesverbände, es tue der Partei nicht gut, wenn ihre Vorsitzenden erneut abgestraft würden.

Und nicht zuletzt hat die Führungsriege um Claudia Roth und Reinhard Bütikofer aus der peinlichen Erfahrung in Göttingen gelernt und diesmal einen klar formulierten Leitantrag vorgelegt. Auch bemüht sie sich von vornherein die Kritiker mit ins Boot zu holen.

So bekennt sich der Antrag zwar klar zur Grundsicherung (siehe Kasten). Dennoch wurden auch Elemente des Grundeinkommens aufgenommen: Etwa eine "Brückenexistenzsicherung", die jedem die Möglichkeit bietet, einmal im Leben eine Zeit lang bedingungslos Geld vom Staat zu erhalten. Auch sollen alle Kinder schrittweise eine Grundsicherung erhalten. Leistungen werden "individualisiert" gezahlt, also unabhängig von der Situation des Partners.

"Die Richtung der sozialstaatsorientierten Linken hat sich durchgesetzt, aber wir haben Zugeständnisse an die andere Seite gemacht", sagt der sozialpolitische Sprecher Markus Kurth. Der Antrag spiegelt die mehrheitliche Auffassung einer Kommission zur "Zukunft Sozialer Sicherung" wider. Dreiviertel ihrer Mitglieder, darunter ihr Vorsitzender Bütikofer, befürworten die Grundsicherung. "Wir haben voneinander gelernt und gemerkt, dass wir in vielen Punkten am gleichen Strang ziehen", sagt die arbeitspolitische Sprecherin Brigitte Pothmer.

Dies ist auch das Signal, das von Nürnberg ausgehen soll: Wir ziehen am gleichen Strang. Und: Ja, wir sind regierungsfähig. Denn es ist nirgends eine politische Konstellation in Aussicht, in der ein bedingungsloses Grundeinkommen machbar wäre. Auch das spielt eine Rolle.

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