Wie Krill und Co die Menschheit retten: Bestandsaufnahme im Schlamm

Organismen vom Grund der Ozena sind wichtige Bestandteile des globalen Ökosystems. Um das besser zu verstehen, suchen Forscher weltweit nach noch unbekannten Arten.

Ohne Blaualgen gäbe es auf der Erde keine Atmosphäre, die Leben am Land zulässt. Bild: dpa

Wer wissen will, was alles in einem Stück Tiefseeschlick lebt, braucht Geld, Geduld und einen Kastengreifer. Wenn es gut geht, schafft die Metallkiste mit dem zuklappbaren Boden einen Meter pro Sekunde vom Schiff in Richtung Meeresgrund. Mit Wucht setzt sie dort auf und sticht dabei einen Sedimentblock heraus. Manchmal müssen die Wissenschaftler zehn, zwölf oder noch mehr Stunden warten, bis das kilometerlange Seil wieder eingerollt und die Box an Bord gehievt ist. Was sie darin vorfinden, sieht für den Laien aus wie unspektakulärer Matsch; nur äußerst selten fährt mal ein größeres Tier in einem solchen Fahrstuhl mit nach oben.

Vorsichtig sieben und spülen die Forscher die Sedimente, konservieren die winzigen Körper der toten Krebse, Würmer und Asseln und färben sie ein, um sie später besser wiederfinden zu können. Dann verstauen sie ihre Beute in Plastikflaschen. Erst später an Land werden sie sie sorgfältig untersuchen. Mindestens drei bis vier Monate benötigt ein erfahrener Biologe, um festzustellen, ob eine Art noch unbekannt ist. Aber die Chancen stehen gut - in der Regel enthalten die Proben aus einigen tausend Metern Tiefe dutzende Tiere, die bisher nie ein Mensch gesehen hat.

Die Tiefsee ist der größte Lebensraum der Erde. Über 62 Prozent der Erdoberfläche sind mit mindestens 1.000 Meter Meerwasser bedeckt. Im Gegensatz zum Land, wo sich alles in der Nähe des Bodens abspielt, beherbergen die Ozeane auch in ihren bis zu 10.920 hohen Wassersäulen zahlreiche Tiere. Zwar sind die unteren Lagen überall finster und außer in der Nähe heißer Quellen und Vulkane kälter als 5 Grad. Doch eine unstrukturierte amorphe Masse ist das Meer deshalb keineswegs. Vielmehr gibt es vielerorts relativ stabile Wasserschichten, die sich nur wenig bewegen und kaum miteinander vermischen. Anderswo spielen Strömungen eine zentrale Rolle, und auch die jahreszeitlich oft unterschiedlich intensive Versorgung mit herabsinkenden Tier- und Pflanzenleichen ist ein entscheidender Einflussfaktor für die Vielfalt der Ökosysteme.

Doch über all das wissen die Biologen nur sehr bruchstückhaft Bescheid. "Wir kennen bisher auf keinen Fall mehr als 20 Prozent der in den Meeren lebenden Arten - wahrscheinlich weitaus weniger", sagt Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung. Manche Wissenschaftler gehen sogar von unter 2 Prozent aus. Schließlich muss man die Wesen, die in den schier unendlichen, stockfinsteren Weiten unterwegs sind, erst einmal finden. "Hervorragende Aufnahmen von lauter unbekannten Tieren taugen nicht zum Erkenntnisgewinn in der Biodiversitätsforschung", sagt Michael Türkay, Zoologe am Senckenberg-Forschungsinstitut. "Der erste Schritt ist immer das Beschreiben und Unterscheiden von Organismen."

Gegenwärtig arbeiten 1.700 Wissenschaftler aus aller Welt am "Census of Marine Life", einer Bestandsaufnahme der in den Ozeanen lebenden Organismen. Dabei geht es nicht um die zweckfreie Befriedigung des menschlichen Wissensdrangs. "Die Erforschung der Biodiversität im Meer ist die größte Herausforderung im Bereich der Klimaforschung", sagt Gutt. Schließlich existiert ein kompliziertes Wechselverhältnis von Atmosphäre, Wasser und dem, was darin lebt. Zudem stellen für 2,6 Milliarden Menschen Fische und Meeresfrüchte die wichtigste Proteinbasis ihrer Nahrung dar.

Eine zentrale Rolle für das Leben auf der Erde spielen die winzigen, für das Auge unsichtbaren Meerespflanzen. Ohne Blaualgen zum Beispiel gäbe es auf unserem Globus keine Atmosphäre, die ein Leben an Land zulässt.

Das extrem artenreiche Phytoplankton ist für etwa die Hälfte der weltweiten Sauerstoffproduktion verantwortlich. Sobald die kleinen Pflanzen sterben oder im Magen eines toten Fischs zum Meeresgrund sinken, nehmen sie Kohlendioxid mit in die Tiefe. Auf diese Weise sind die Sedimentschichten der Ozeane zum mit Abstand größten CO2-Speicher der Erde geworden. Auch ein erheblicher Teil des Kohlendioxids, das seit der Industrialisierung in die Luft geblasen wurde, ist auf diese Weise absorbiert worden. Anders gesagt: Ohne Kieselalgen, Dinoflagellaten und die anderen Winzlinge wäre der menschengemachte Temperaturanstieg schon heute weitaus dramatischer.

Doch inzwischen sind im Treibhaus Erde auch die oberen Schichten der Meere spürbar wärmer geworden: In den vergangenen 150 Jahren ist die Wassertemperatur um durchschnittlich 0,6 Grad gestiegen; Nord- und Ostsee sind seit Mitte der 80er Jahre sogar um 1,4 Grad wärmer geworden. Das hat nicht nur dazu geführt, dass zum Beispiel der Krill - die Hauptnahrung von Pinguinen, Robben und Walen in antarktischen Gewässern - heute weiter südlich anzutreffen ist als noch vor ein paar Jahren. Auch in der Nordsee schwimmen inzwischen Anchovis und Meerbarben, die früher nur im Mittelmeer oder im Golf von Biskaya vorkamen.

Viel entscheidender jedoch ist, dass die Erwärmung häufig schwer durchschaubare Kettenreaktionen auslöst. So registrieren die Wissenschafter vom Alfred-Wegener-Institut in ihrem Forschungsgebiet vor Spitzbergen deutlich mehr Algen als noch vor ein paar Jahren. Der Grund: Die Gletscher schmelzen heute schneller, so dass das Oberflächenwasser salzärmer und damit leichter wird und kaum noch absinkt. Für die Pflanzen ist das von Vorteil, weil sie sich jetzt besser in der Nähe der Meeresoberfläche halten können und wegen der günstigen Lichtversorgung gut wachsen. Zugleich haben die Forscher festgestellt, dass die Vielfalt der Tiere in dem Gebiet deutlich abnimmt. Vielleicht, weil der der pflanzliche Nahrungssegen bestimmten Arten Vorteile verschafft, die dann andere verdrängen? Die Wissenschaftler wissen es nicht. Auf jeden Fall sind die Zusammenhänge komplex - und für ein klares Bild fehlen viel zu viele Mosaiksteine. Dass die Natur im Ozean anderen Regeln folgt als an Land, mache es "umso schwerer, sie zu begreifen und zu schützen", konstatieren die Ozeanologen Katherine Richardson und Stefan Rahmstorf.

Auch der Lebensweg von Ruderfußkrebsen zeigt, wie vielfältig verschlungen die Wege im Meer sind. Im Sommer lebt es sich gut für sie in der Nordsee. Nicht nur für die wenige Millimeter großen Krustentiere mit den langen, zur Seite stehenden Antennen gibt es dann viel zu fressen, die meisten ihrer Feinde haben dann ebenfalls zahlreiche Futteralternativen. Doch wenn sich der Herbst ankündigt, wird es für die Calanus finmarchicus immer gefährlicher. Auch der eigene Nachwuchs hat dann Mühe, Nahrung zu finden. So nutzen die jüngeren Ruderfußkrebse die Strömung und lassen sich westwärts in den offenen Atlantik treiben. An einer Stelle, wo das Wasser in 1.000 Meter Tiefe fast den Gefrierpunkt erreicht, sinken sie ab und halten in dem nur selten von anderen Lebewesen durchstreiften Gebiet ihren Winterschlaf. Im Frühjahr steigen sie dann wieder auf, und nach der Paarung treiben die Eier dank günstiger Strömung zurück in die Nordsee.

Doch in den letzten Jahren hat sich die Zahl der Ruderfußkrebse deutlich reduziert. Zum einen ist die kalte Wassermasse geschrumpft, in der die Tiere überwintern können. Zum zweiten sind die Winde unzuverlässiger geworden, so dass weniger Eier die Nordsee erreichen. Das ist nicht nur ein Problem für die Calanus. Auch der Kabeljaunachwuchs darbt, weil die Krebse seine Hauptnahrung sind.

Es sind aber nicht allein die steigenden Temperaturen, veränderte Strömungen und Stürme, durch die sich die Anreicherung von Kohlendioxid in der Atmosphäre negativ aufs Meer auswirkt. Wo nämlich Wasser und Luft miteinander in Kontakt kommen, gleichen sich ihre gasförmigen Bestandteile an. Deshalb steigt auch der CO2-Gehalt in den oberen Wasserschichten - und führt zur Versauerung. Für viele Muscheln ist das eine Existenzfrage, weil es ihnen in solchem Milieu immer schwerer fällt, Kalkschalen zu bilden. Auch Korallen sind nicht allein durch Überhitzung hochgefährdet. Weil ihr Baustoff Aragonit besonders anfällig gegen sinkende ph-Werte ist, warnen Wissenschaftler, dass das Ende sämtlicher Korallenriffe in wenigen Jahrzehnten besiegelt sein könnte.

Neben den indirekten Folgen, die die Verbrennung fossiler Brennstoffe für die Ozeane hat, gefährdet der Mensch die marine Biodiversität aber auch ganz unmittelbar. Mehr als 100 Tonnen Fische, Muscheln und Krustentiere landen jährlich in Töpfen und Pfannen - und die Nachfrage wächst. Dabei sind schon heute mehr als drei Viertel der Fischbestände ausgeschöpft oder sogar über die Grenzen ihrer Regenerationsfähigkeit hinaus reduziert, warnt die Welternährungsorganisation FAO. Vor allem die Zahl der großen Fische wie Hai, Thunfisch und Heilbutt hat sich innerhalb eines halben Jahrhunderts um 90 Prozent reduziert. Ohne ein radikales Umsteuern könnte eine Fischmahlzeit schon Mitte des Jahrhunderts für viele Menschen so unerschwinglich sein wie Kaviar und Champus heute.

Mit Echolot und Sonargeräten spüren schwimmende Fischfabriken mit über 2.000 Tonnen Ladekapazität die großen Schwärme auf. Dann fahren sie über 100 Meter breite, 170 Meter hohe und bis zu 2 Kilometer lange Schleppnetze aus, in denen nicht nur die gesuchten Fische enden, sondern auch Millionen anderer Tiere zerquetscht werden. Weil schwere Eisenrollen das Fanggerät am Meeresgrund halten, werden dabei auch noch die Kinderstuben vieler Arten zerpflügt.

Solchem Raubbau sind fast keine Grenzen gesetzt - schließlich gehören die Ozeane niemandem. Wissenschaftler und Umweltschützer fordern seit Jahren, sechs zentrale Gebiete in den Weltmeeren unter ein totales Fangverbot zu stellen. Doch für Reservate in internationalen Gewässern gibt es bisher keinerlei Gesetzgebung. Das weckt auch Begehrlichkeiten bei Bergbauunternehmen, die es auf metallische und fossile Bodenschätze abgesehen haben. Noch ist deren Ausbeutung in der Tiefsee unwirtschaftlich. Doch steigende Rohstoffpreise und schwindende Ressourcen an Land könnten das bald ändern.

Wie viel Zerstörung der Mensch in den Ozeanen schon angerichtet hat, weiß niemand genau. Selbst wenn tausende Arten verschwinden und ganze Ökosysteme zusammenbrechen, wird niemand sie vermissen - weil niemand sie gekannt hat. Doch eines ist sicher: Die Gefahren, die durch die Veränderungen in den Ozeanen drohen, beschränken sich nicht auf einen Anstieg des Meeresspiegels. Vielleicht ist das sogar nur ein kleinerer Teil des Problems.

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