Iranische Aktivistin Shadi Sadr: "Die Bewegung ist vielseitig"

Die iranische Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Shadi Sadr über die soziale Mischung und das starke Engagement von Frauen in der Protestbewegung. Sie spricht sich für Sanktionen aus.

Shadi Sadr auf einem Plakat, mit dem gegen ihre erste Inhaftierung protestiert wurde. Bild: ap

taz: Frau Sadr, während der Proteste direkt nach den Präsidentschaftswahlen waren Sie fast zwei Wochen in Evin inhaftiert, dem Gefängnis für politische Gefangene. Was haben Sie dort erlebt?

Shadi Sadr: Ich bin zum zweiten Mal in Evin inhaftiert gewesen, in demselben Trakt, wo ich auch beim ersten Mal war. Wenn ich die Haftbedingungen, die Wächter und die Behandlung im Gefängnis vergleiche, muss ich sagen, dass alles schlimmer geworden ist. In diesem Trakt von Evin müssen alle Gefangenen ihre Augen bedecken, außer, sie befinden sich in ihren Zellen. Selbst während der Verhöre bleiben die Augen verbunden. Normalerweise wurde ich von zwei Männern vernommen, die hinter mir saßen oder standen. Ich habe fünf lange Verhöre durchgemacht. Sie fragten mich aus über meine Aktivitäten, meine Reisen und Teilnahme an Konferenzen, mein Engagement in der Frauenbewegung, Kampagnen, über Menschen, die mit mir arbeiten, und meine Kontakte, besonders ins Ausland.

Während der Demonstrationen marschierten Frauen Seite an Seite mit Männern, widersetzten sich den Sicherheitskräften mit an vorderster Front. In welchem Ausmaß ist diese Protestbewegung eine Frauenbewegung?

Ich habe persönlich gesehen, wie Frauen Slogans bestimmen und Demonstranten dirigieren. Das Problem ist, dass diese mutigen Frauen keine dominante Rolle in der politischen Führung der Bewegung spielen. Auf der Straße sind sie Anführerinnen, aber in der Politik sind sie unsichtbar.

Außerhalb des Iran besteht der Eindruck, dass die meisten der protestierenden Frauen aus der Oberschicht stammen, dem Teheraner Norden. Wie würden Sie die Zusammensetzung der Protestbewegung beschreiben?

Ich denke, dass diesbezüglich ein großes Missverständnis herrscht. Es wurde ein Klischee geformt, nach dem alle zur Ober- oder Mittelklasse gehören. Doch die Bewegung ist vielseitig. Sie erstreckt sich über Generationen, soziale Schichten und religiöse wie nichtreligiöse Menschen. Man kann diese Vielfalt auf der Straße sehen. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Wenn wir uns die Namen der Märtyrer der Bewegung anschauen, sehen wir, dass viele von ihnen aus Kleinstädten kamen, als Studenten oder Arbeiter. Einer der bekanntesten Märtyrer, Behzad Mohajer, war ein einfacher Kurier. Einige der anderen stammten aus den armen Gegenden Teherans. Trotzdem ist die Bewegung an sich eine intellektuelle Bewegung. Die Hauptforderungen sind Freiheit und Demokratie, nicht eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation. Unabhängig von ihrer Herkunft teilen die Menschen diese Ideen.

Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?

Ich fordere, dass in dieser kritischen Situation sowohl westliche Regierungen als auch die westlichen Zivilgesellschaften von den systematischen Menschenrechtsverletzungen Notiz nehmen und sie ansprechen. Sie müssen wählen zwischen wirtschaftlichen Vorteilen und Menschenrechten. Sie müssen wählen zwischen dem Volk und der Regierung im Iran.

Sie sagen, dass internationaler Druck auf den Iran aufgrund von Menschenrechtsverletzungen das Regime mehr in Bedrängnis bringen würde als Verhandlungen im Atomstreit. Warum?

Manchmal scheint es, als sei der Atomstreit ein fantastisches Spiel für die iranische Regierung, um die Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft am Leben zu halten. Mit der Atomfrage gibt es immer etwas zu diskutieren und verhandeln. Obwohl es manchmal so aussieht, als ob die iranische Regierung die Verhandlungen im Atomstreit nicht weiterführen wolle, denke ich, dass sie sie eigentlich so weit verlängern möchte wie möglich. Ansonsten würde die Regierung von der internationalen Gemeinschaft mit den Menschenrechten konfrontiert werden, und das ist ein Thema, das sie vermeiden will.

Sprechen Sie sich für Sanktionen gegen den Iran aus, abhängig von der Situation der Menschenrechte?

Ich bin für Sanktionen, besonders bei Menschenrechtsverletzungen. Manche iranische Aktivisten und EU-Politiker sind gegen Sanktionen, weil sie denken, dass sich Sanktionen gegen die Menschen im Iran richten würden. Doch als Iranerin, die das ökonomische System des Iran sehr gut kennt, denke ich, dass Sanktionen zuerst die Regierung treffen würden. Im Iran steht die gesamte Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle. Wenn wir also über das ökonomische System im Iran sprechen, sprechen wir über eine Ökonomie der Unterdrückung. Dagegen würden sich die Sanktionen richten. Sanktionen, die die ökonomischen Aktivitäten der Revolutionsgarden, des Informationsministeriums und anderer Institutionen der Unterdrückung treffen, könnten garantieren, dass sich in Menschenrechtsfragen etwas bewegt.

INTERVIEW: JAN FELIX ENGELHARDT