Vom Schock zum Skandal

Knappe dreieinhalb Jahre nach dem Pisa-Debakel scheint die deutsche Bildungspolitik international rehabilitiert – obwohl Kellerkinder auch zukünftig mit Hauptschule und Sozialhilfe abgespeist werden

VON CHRISTIAN FÜLLER

Puhh, da haben wir ja noch mal Glück gehabt! Vor gut dreieinhalb Jahren, die erste Pisastudie hatte deutsche Schulen gerade im Weltvergleich als Beinahe-Schlusslicht identifiziert, drohte das Abendland unterzugehen. Presse und Bildungsbürgertum lamentierten, weil ihre Kinder nicht lesen konnten. Ausgerechnet. Goethes und Schillers Nachfahren hießen plötzlich: funktionale Analphabeten. So nennt man Wesen, die eine DIN-A4-Seite zwar einwandfrei entziffern können, aber trotzdem nicht wissen, was drin steht.

Und jetzt? Ist alles wieder in Ordnung.

Die Zeitungen titeln „Pisaschock überwunden“, die Präsidentin der Kultusminister, Johanna Wanka, sieht uns schon wieder auf einem internationalen Spitzenplatz, und die Kanzlerkandidatin wird Kanzlerin, obwohl sie zum Thema Schule praktisch null in ihrem Wahlprogramm stehen hat.

Was da gerade geschieht, lässt sich vielleicht am besten anhand einer Elternversammlung in einem Mittelklassekindergarten studieren. Die Elternschaft, die ihre Sprösslinge seit drei, vier Wochen in der Kita hat, ist entzückt. Mein Paul fühlt sich ja so wohl, jauchzen die Eltern, Emma will gar nicht mehr mit nach Hause. Glücklich sind sie, in deren Reihen sich viele, viele Deutsche und keine Turko-Zuwanderer befinden. Allenfalls ein paar Luxusausländer sind dabei, die im multikulturellen Medien- und Botschaftermilieu ihre Groschen verdienen. Die Stimmung ist prächtig, bis, ja bis die Kita bekannt gibt: Der Kurs für die Vorschulkinder beginnt erst am 1. November.

Darüber, so zeigt sich, ist die white middle class nicht amüsiert. Denn, eine Mutter blickt stirnrunzelnd zum Kalender, heute ist 12. September. Es wäre sinnvoll, bringt sie vor, früher anzufangen. Man müsse die Kinder sofort auf Schule vorbereiten, moniert sie immer drängender. Eine andere ergänzt, im November bereits sie die Anmeldefrist für so genannte „Kannkinder“, das sind jene, die früher eingeschult werden sollen, mit 5 zum Beispiel. Bis dahin will man wissen, wo das Kind steht.

Die Botschaft an die Erzieherinnen ist eindeutig. Bitte, keine Zeit verlieren, unsere Kinder sollen schließlich mal aufs Gymnasium und von dort, husch, husch, weiter auf die Universität. Kultusminister wie Bildungselite teilen diese Perspektive, sie orientiert sich an den oberen Zehntausend der Lernpyramide. Bei den unten lässt sich, die FAZ hat es gerade wieder in schöner Offenheit gesagt, nicht viel machen, weil sie für die Hochschulen nicht begabt sind.

Das ist das große Missverständnis mit Pisa. Die Studie, die in den OECD-Staaten 15-jährige Schulkinder examinierte, war gar nicht als Depressivum für die teutsche Nation angelegt. Sie wollte schlicht das empirische Loch über Schulen beseitigen. Seit Pisa wissen wir mehr darüber, was Schulkinder weltweit lernen, wie sie über Schule denken und ob die Lehrer sie motivieren. Dass dabei eine Reihe von Problemzonen an der deutschen Schule neu und tiefenschärfer in den Blick geriet, war ein unangenehmer, aber wichtiger Nebeneffekt.

Die wichtigste, die für Deutschland bestimmte Pisa-Nachricht lautete: Kaum eine Schule ist ungerechter als unsere. Nirgendwo in den Industrienationen bestimmt die Herkunft der Eltern, bildungs- wie berufsmäßig, so eindeutig den Schulerfolg. Kurz gesagt: Staatliche Lernanstalten gleichen Bildungsunterschiede, die Kinder von zu Hause mitbringen, nicht etwa aus, sie verstärken sie. Oder anders: Die Ungerechtigkeit im Schulsystem ist gewollt.

Dieser Befund ist für eine Republik, die allen BürgerInnen (auch den Kleinen) die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Gleichheit garantiert, nicht besonders schmeichelhaft. Man könnte, wenn man das Grundgesetz ernst nehmen wollte, durchaus kritische Fragen an das politische Ethos der Kultusminister richten. Aber dafür ist schon gar keine Zeit mehr, denn, oh Wunder, der Pisaschock ist ja schon überwunden. Warum? Weil Bayern Anschluss an die internationale Spitze gefunden hat, weil die Zahl der Akademiker wieder steigt, weil wir wieder obenauf sind.

Dass bundesweit weiterhin über 20 Prozent der 15-Jährigen ganz unten auf der Kompetenzskala verharren, dass sie also nach wie vor als Fastanalphabeten gelten, die auf Hauptschule und Sozialhilfe abonniert sind, muss man, der Ehrlichkeit halber, festhalten dürfen. Vor allem für die Kultusminister. Denn die haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dieses Risikofünftel nicht auf dem Schirm. „Wie ist denn da der internationale Schnitt?“, fragte Kultuspräsidentin Wanka gerade, „aha, da muss Deutschland besser werden.“

Der Schock mag überwunden sein. Der gesellschaftliche Skandal ist es nicht.