Sich reiben an der Muschel

Bei den „Berlin Independent Days“ trafen sich in der letzten Woche die unabhängigen „Labels“: Firmen, die diesseits der Konzerne versuchen, zeitgenössische Musik an die Hörer zu bringen. Aber wo die Independents sich begegnen, dominieren noch immer die heiseren Stimmen und die blechernen Gitarren. Einige wichtige Labels, die vom Jazz kommen oder ihn im „Experiment“ streifen, waren auf der Messe nicht vertreten: die Berliner FMP, die Münchner JMT, das Würzburger recommended/no man's land und das intakt-Lael aus Zürich.  ■ Von Ulrich Stock

FMP

An erster Stelle die FMP: Weil sie so frei ist, so kompromißlos und immer noch so frisch, obwohl schon so alt. „Free Music Production“ wurde 1969 gegründet als Musiker-Kollektiv; Freier Jazz sollte frei produziert werden, eine Idee im Stil der Zeit. Das Kollektiv zerplatzte alsbald (man konnte sich über Veröffentlichungen nicht einigen), übrig blieb Jost Gebers. Der Bassist gab das Spielen auf, um nur noch Konzerte zu planen und Platten zu verlegen. Das zum Leben nötige Geld muß sich der 50jährige noch heute mit Sozialarbeit in einem städtischen Jugendheim verdienen.

Gebers bezeichnet seine Produkte gern als Dokumente: Sie legen Zeugnis ab vom Improvisationsprozeß im (fast ausschließlich) europäischen Jazz seit nunmehr zwei Jahrzehnten. Aus diesem Grunde versucht er, alle Platten des Programms ständig vorrätig zu halten. Solche, die sich ausverkaufen, werden neu aufgelegt. FMP — ein Archiv? Gebers ist nicht der Typ des besinnungslosen Sammlers, dessen einzige Kategorie die Vollständigkeit ist. Gebers ist auch nicht neutral. Er inszeniert. Er läßt geschehen. Mit Konzertreihen wie dem Total Music Meeting (vom 31.10. bis 2.11. in Berlin), dem Workshop Freie Musik (im Frühjahr im FMP-Studio), den Two Free Concerts (im Rathaus Charlottenburg — bei freiem Eintritt) schafft er Situationen, Begegnungen, Konstellationen. In diesem Jahr hat er für das Total Music Meeting beispielsweise drei Saxophonisten, drei Bassisten und drei Schlagzeuger verpflichtet, die an drei Abenden in erst unmittelbar zuvor festzulegender Figuration auftreten werden: vom Solo über das Trio bis zu allen Neunen ist alles vorstellbar. Ähnliches hat er schon mit 18 Posaunisten oder 16 Pianisten (an bis zu drei Klavieren) auf die Bühne gebracht.

Gebers war es, der einst den Virus freier Musik nach Ost-Berlin getragen hatte. Eine beachtliche Szene großer Musiker entstand in der DDR (Conrad Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Joe Sachse, Uschi Brüning, Uwe Kropinski, Ulrich Gumpert, Günter Sommer und viele andere mehr); kurz vor Schluß sogar ein staatliches Free Jazz Orchester... Kaum zu fassen im nachhinein.

Seit 1988, und dies ist so etwas wie ein Höhepunkt, arbeitet Jost Gebers mit Cecil Taylor, dem einflußreichsten Musiker des Free Jazz. Während amerikanische Plattenfirmen über ein Jahrzehnt hinweg nicht eine Platte des genialen Pianisten veröffentlichten, hat Gebers binnen weniger Jahre das Dutzend vollgemacht. Zuletzt erschien eine CD-Dreier-Serie: Looking (Berlin Version) als Quintett Corona (mit Harald Kimming, Violine; Muneer Abdul Fataah, Cello; William Parker, Bass; und Tony Oxley, Schlagzeug), als Trio (mit Parker und Oxly) und als Solo.

Inbesondere im Solo und im Trio setzt Taylors FMP-Musik Maßstäbe: was möglich und was unmöglich ist. Diese Musik ist eine wirkliche Herausforderung, vor der zu kapitulieren keine Schande ist. Mit konventionellen Instrumenten stößt Taylor die Tür auf (oder schlägt sie ein) zu anderen Hörräumen. Sein Produzent Gebers ist dafür mit dem deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet worden. Hülfe es doch, ein paar mehr der schwierigen Platten zu verkaufen — denn mehr als tausend, zweitausend Exemplare gehen nie weg. (Aber die gehen um die ganze Welt.)

JMT

Das Kürzel stand ursprünglich für „Jazz Music Today“, heute soll es „Jazz and Music Today“ bedeuten. Die Umdefinition ist der Versuch, auch solche Musik zu fassen, die mit herkömmlichem Jazz nichts mehr gemein hat. Davon hat JMT jede Menge. Gerade ist I Can't Put My Finger on It erschienen, die zweite CD des Trios Miniature. Was Hank Roberts, Cello, Joey Baron, Schlagzeug, und Tim Berne, Saxophon, da an feiner Eklektizistik eingespielt haben, sucht seinesgleichen (und findet es nur in der ersten CD des Trios). Die drei weißen New Yorker stehen für den einen Teil des JMT-Programms: postmoderne Musik aus der Weltzentrale innovativer Musik. Rock, Jazz, Funk, Soul, Free, Folk, Country — die Mitglieder der einst mit „Noise“ bezeichneten Manhattan-Szene nehmen jeden Stil auf und kreieren durch Kombination, Konfrontation und Destruktion daraus etwas Neues. Genußvoll organisieren sie Struktur und Chaos auf der Grundlage technischer Virtuosität.

Der andere Teil des JMT-Programms ist schwarz: Cassandra Wilson, Greg Osby, Steve Coleman, Robin Eubanks. Die Musik ist so modern wie traditionsbezogen und glänzt in technischer Perfektion. „M-base“ etikettieren einige der Musiker die Verbindung schwarzen Selbstbewußtseins mit elektronischer Datenverarbeitung. Das klingt ein bißchen diffus (und soll es wohl auch), hat als Modewort aber schnell die Runde gemacht und treibt Neugierige in die Konzertsäle.

Unter den Käufern von JMT-Platten gibt es solche, die nur den schwarzen oder nur den weißen Teil hören. Das ist nicht verwunderlich, weil es kaum Überschneidungen gibt und auch die Spaltung der New Yorker Szene wiederspiegelt. Aber das ist Geschmackssache. Wenigstens einen gibt es, der beides mag, Produzent Stefan Winter, 33. Zwei Dinge unterscheiden ihn grundsätzlich von FMP-Produzent Jost Gebers: Er veranstaltet keine Konzerte (sondern hat seine Laufbahn als Hospitant bei enja, einem anderen deutschen Jazz- Label, begonnen). Und er kann von der Musik leben. JMT ist weltweit an den Polygram-Vertrieb angeschlossen, eine Schallplatte der Sängerin Cassandra Wilson beispielsweise verkauft sich 40.000 mal. Nach Stückzahlen sind die USA der größte Markt; das größte Interesse registriert Winter gleichwohl in Japan.

Es ist schon erstaunlich, daß ein Deutscher, der mit 19 seine erste richtige Jazzplatte hörte (die ihn traf wie ein Blitz), binnen weniger Jahre mit ausschließlich amerikanischen Musikern ein ambitioniertes Label mit weltweiter Distribution kreieren konnte. Winter gleicht Gebers in der Beharrlichkeit, in der er mit Musikern arbeitet. Er geizt nicht mit Anregungen und Kritik; er bringt dennoch auch mal eine Platte heraus, von der er nicht hundertprozentig überzeugt ist, aber glaubt, sie sei für die Entwicklung der Musiker notwendig.

Was die Qualität angeht, die der Aufnahme, mag er Gebers sogar noch übertreffen: Aufs sorgfältigste wird hier gearbeitet, mit deutscher Gründlichkeit. Immer im Studio, nie im deutschen Wald (wie FMPs Nr. 044: Peter Brötzmann/Han Bennink: Schwarzwaldfahrt, 1977).

recommended/ no man's land

Und nun wird's verwirrend. Denn das kleine Würzburger Label ist/sind drei Labels: no man's land (bisher 17 Veröffentlichungen), review (15) und recommended no man's land (5). Und diese(s) eine/drei Label(s) sind vernetzt mit recrec (Schweiz), RER (CSFR), ADN (Italien), Ayaa (Frankreich) und ReR Megacorp. (Großbritannien). Solche Vielfalt ist schon beinahe antikommerziell; denn wenn der eine von recommended spricht, weiß der andere nie, was gemeint ist. Wenn sich ein Musiker dann auch noch auf verschiedene dieser Labels verteilt, wird die Orientierung unmöglich (in gewisser Weise auch unnnötig). Der Gitarrist Fred Frith beispielsweise hat bei recommended (mit der „Skeleton Crew“) drei Platten herausgebracht und legt bei recrec neben Neuerscheinungen die alten, vergriffenen Werke wie Gravity, Cheap at Half The Price etc. als CDs wieder auf.

Edith Walz, 32, und Jürgen Königer, 34, haben wie Jost Gebers als Konzertveranstalter begonnen. Auch Edith verdient ihr Geld nicht mit Platten, sondern als Halbtagssekretärin beim Bezirk Unterfranken. Mit dem Produzieren haben sie 1984 begonnen, wollten Sachen herausbringen, die es so bis dato nicht gab. Die erste Platte trug den Titel Voice, Notes and Noise, war durchsichtig, steckte in einem transparenten Cover, zusammen mit einer vierfarbigen Folie, aus lauter kleinen Bildern, die man ausschneiden und einrahmen und dann als Dias projizieren konnte.

Zur Produktion kam ein Versand, dann ein Laden (den es nicht mehr gibt, weil Würzburg dafür zu klein ist). Von den anderen Labels, die hier versammelt sind, unterscheidet sich no man's land in zwei Punkten: Die Platten werden nicht beschlossen und dann im Studio produziert, sondern das Verleger-Duo bekommt von (zumeist) befreundeten Musikern Bänder zugeschickt, die sie dann herausbringen oder auch nicht. Dies geht natürlich auf Kosten der Qualität, dafür ist es billiger und ermöglicht mehr Experimente. Entscheidend bei der Auswahl ist der persönliche Geschmack, der, anders als bei Gebers oder Winter, weniger Stringenz denn Varianz zum Merkmal hat. Wer irre Sachen sucht, zwischen allen Schubladen, weder Jazz noch sonstwas, der findet sie eher hier als woanders.

Da gibt es zum Beispiel die Platten-Platte More Encopes des New Yorker Tellerdrehers Christian Marclay. Der spielt auf mehreren Plattenspielern mit Aufnahmen so unterschiedlicher Musiker oder Komponisten wie Johann Strauss, John Zorn, Frederic Chopin, Louis Armstrong, John Cage, Maria Callas und Jimi Hendrix (das sind noch nicht alle). Jedes Stück seiner Platte setzt er komplett aus Platten der Genannten zusammen, wobei er Schichtungen, Wiederholungen, Verzerrungen und dergleichen mehr einsetzt. Das nach John Cage benannte Stück ist die Aufnahme einer Platte, die Marclay durch das Zerschneiden und Neu-Zusammenkleben verschiedener Cage-Platten herstellte. Für die Aufnahme von Louis Armstrong benutzte er ein Grammophon mit Handkurbel.

Mit dieser Produktion hat no man's land der Schallplatte noch ein spätes Denkmal gesetzt. Aber auch in Würzburg ist der Trend zur CD nicht mehr zu stoppen.

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Fortsetzung

Der CD-Sampler A Classic Guide to No Man's Land ist ein Rundflug über den musikalischen Kontinent der Würzburger. Manches Stück findet gleich den Weg ins Innenohr, andere reiben sich schon an der Muschel.

intakt

Selten haben Kulturredakteure so gute Taten vollbracht wie Patrick Landoldt und Fredi Bosshardt: Die größten Kritiker der Elche werden plötzlich selber welche. Gemeinsam mit der Soziologin Rosemarie Meier gründeten die 'WoZ'-Journalisten aus dem Zürcher/Basler/Berner „Taktlos“-Festival heraus ihr „intakt“-Plattenlabel. Die erste Platte (das Cover hatte seine Öffnung versehentlich links) entstand, weil man niemand hatte finden können, der die Mitschnitte improvisierter Musik vom Festival in Rillen pressen wollte. Nachdem „intakt“ einmal da war, gewann es Platte um Platte (inzwischen sind es 19) an Profil. Das Label verbindet Vielfalt mit Konsequenz, auf der Suche nach freier Musik nach dem free jazz.

Zum einen ist „intakt“ das Schweizer Label für die Schweizer Pianistin Irene Schweizer. Sie, die zu den führenden Free-Jazz-Musikern Europas zählt, versteht es meisterhaft, spontanen Eingebungen Form zu geben, sowohl allein, wie im Zusammenspiel mit anderen (die rein improvisierte Platte The Storming of The Winter Palace bekam 1988 den Deutschen Schallplattenpreis). Zuletzt erschienen zwei CDs mit ihren Soloaufnahmen; es gibt drei Duo- Platten mit Schlagzeugern (Andrew Cyrille, Louis Moholo, Günter Sommer); drei weitere sollen folgen (Paul Lovens, Pierre Favre, Han Bennink).

Dann sind auf „intakt“ Frauen stärker repräsentiert als anderswo; dafür bürgt Rosemarie Meier, die das feministische „Canaille“-Festival mitorganisiert hat.

Drittens stellt „intakt“ avancierte Improvisateure vor; ein Musterbeispiel dafür wäre die David Moss-CD My Favourite Things, die zu den abseitigsten Veröffentlichungen des Jahres zählt: Moss, eigentlich Schlagzeuger, singt sechzehn Lieder, die ihm etwas bedeutet haben (unter anderem Delilah von Tom Jones oder The Girl from Ipanema von Antonio Carlos Jobim) nach seiner Erinnerung und seinen Vorstellungen von vokaler Kunst. Hinreißend bis zutiefst beunruhigend. Schließlich will „intakt“ Musiker verantwortungsvoll und in kritischer Auseinandersetzung begleiten, darin ähnlich FMP und JMT: Bislang haben Landolt, Meier und Bosshardt dies vor allem am London Jazz Composers Orchestra gezeigt.

Mit der Platte Harmos ist es „intakt“ gelungen, die moderne Bigband-Geschichte des Jazz nach Carla Bley, Charlie Haden und Alexander von Schlippenbach um eine Facette zu erweitern: Improvisation und Komposition im großen Ensemble begegnen sich hier auf zuvor noch nicht gehörte Weise. Und das will etwas heißen: auf noch nicht gehörte Weise. Denn je mehr Musik entsteht, je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, Unerhörtes zu entdecken.

FMP, Postfach 100227, 1000 Berlin 10

JMT, Postfach 190925, 8000 München 19

recommended no man's land, Postfach 110449, 87 Würzburg

intakt, Postfach 468, CH-8024 Zürich