Babylon muss brennen

Jamaika tobt: In den Auseinandersetzungen zwischen Dancehall-Stars wie Capleton und Beenie Man werden die aktuellsten religiösen und gesellschaftlichen Fragen im Reggae-Rhythmus verhandelt

aus JamaikaELLEN KÖHLINGS & PETE LILLY

Mit dem Taxi geht es Richtung Orange Hill durch den jamaikanischen Busch. Im Zickzackkurs um die Schlaglöcher. Vorbei an hell erleuchteten All-inclusive-Hotels, durch die offenen Fenster strömt der fischige Geruch der karibischen See, unterbrochen vom süßlichen Duft des Ganjas. Das Zirpen der Grillen übertönt sogar die wummernde Bassbox aus dem Kofferraum. Nach zwei Stunden erreichen wir den Jurassic Park. Jamaikas derzeitiger No. 1 Dancehall-DJ Capleton wird hier mit dem Killamanjaro-Soundsystem auftreten.

Mitten in der jamaikanischen Walachei herrscht reges Treiben. In kleinen Verschlägen werden Zuckerrohr, Kokosnusswasser und vegetarische Köstlichkeiten angeboten. Dazwischen Würfel- und Dominotische. Die aktuellen Riddims des Killamanjaro-Sounds dröhnen bereits über das Gelände, während das Publikum noch ankommt: leicht bekleidete Dancehall-Queens auf Motorrädern, urige Rastas mit wehenden Äthiopienfahnen auf der Ladefläche eines Zuckerrohrtrucks, finster dreinblickende Rude Boys, Bobo-Rastas in beeindruckend farbigen Roben und künstlerisch gewickelten Turbanen, dann wieder abgerissene Raggamuffins neben schnieken Lexus-Fahrern.

Alle erwarten gespannt die Ankunft des Mannes, der seit dem letzten Jahr mit jeder Single für mehr und mehr Aufregung sorgt. So etwas wie Capleton hat die Karibikinsel bislang noch nicht erlebt. Überall hört man „More Fire!“, den Schlachtruf des Fireman. Allerdings: Die Texte des DJs (so werden die Rapper in Jamaika genannt) sind schwulenfeindlich, rassistisch und fundamentalistisch. Als Weißer, so wird gemunkelt, solle man besser keine seiner Shows besuchen. Zu schnell könne sich die aufgeheizte Stimmung gegen anwesende Repräsentanten von Sklaverei, Unterdrückung und Ausbeutung richten. Doch die Stimmung hier ist friedlich, von Aggression nichts zu spüren.

Sexist oder Spiritualist?

Clifton Bailey wurde 1974 in Kingston geboren. Aufgrund seiner Wortgewandtheit wird ihm nach einem örtlichen Rechtsanwalt der Spitzname Capleton verpasst. Als er 1990 die Dancehall-Arena betritt, bieten seine Texte wenig Raum für Imagination; seine sexuell expliziten Lyrics lassen Shabba Ranks und Lady Saw aussehen wie prüde KlosterschülerInnen. Doch gleichzeitig packt er die Belange der Ghetto-Youth so eindeutig in Worte wie zu dieser Zeit kein anderer.

Mit der Geburt seiner Tochter 1992 vollzieht Capleton einen Wandel: In den Tunes „Almshouse“ und „Prophet“ bekennt er sich öffentlich zum Rasta-Glauben, noch bevor auch im Rest des Dancehall-Reggae der „Cultural Riddim Shift“ stattfindet: Der brutale Mord an DJ Panhead und der unaufgeklärte Tod des Reggae-Sängers Garnett Silk veranlasst Künstler wie Buju Banton und Luciano, sozialkritische, politische und spirituelle Themen den Vorzug gegenüber Waffen verherrlichenden und misogynen Texten zu geben. Dancehall wird zur Message-Musik. Statt geschorener Brikettköpfe sind Dreadlocks wieder en vogue.

Doch Capleton ist bereits einen Schritt weiter. Turban und Robe drücken seine Zugehörigkeit zum Rasta-Haus der Bobo Shanties aus. Nach seinem 95er Album „Prophecy“ auf dem HipHop-Label Def Jam zieht sich der Prophet Capleton aus dem Rampenlicht zurück und fördert jüngere Künstler wie Sizzla, der in seinen Texten alles Babylonische – Synonym für das korrupte Establishment – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, bis er in seinem jugendlichen Sturm und Drang zu weit geht. Bei Live-Shows nimmt Sizzla den Mund zu voll: Er fordert dazu auf, Weiße und Journalisten zu verbrennen. Sein Name ist eine Ableitung von „to sizzle“: verbrennen, bruzzeln.

Die Leiterin der Reggae Studies Unit an der University of the West Indies, Dr. Carolyn Cooper, weiß, dass Mitteleuropäer sich von dieser Wortwahl bedroht fühlen. Doch sie stellt klar, dass das Verbrennen eine Metapher ist. Zwischen Rhetorik und Inhalt können Welten liegen: „Verbrennen bedeutet einfach, ein Urteil über jemanden zu fällen, der sich in den Augen des DJs nicht angemessen verhält. Das heißt nicht, dass er generell gegen Weiße ist oder Journalismus verurteilt. Weiße werden als Kolonialisten und Unterstützer von Genoziden gesehen.“

Doch als Sizzla ein Auftrittsverbot erteilt wird, erscheint Capleton wieder auf der Bildfläche und feuert einen Nummer-eins-Hit nach dem anderen ab. Ähnlich wie Bob Marley und Peter Tosh in den 70er-Jahren ihre Musik als religiöse Plattform nutzten, sind es seit Mitte der 90er Dancehall-Interpreten wie Junior Reid, Anthony B, Sizzla und vor allem Capleton, die die Bobo-Ideologie in die Öffentlichkeit tragen.

In meines Vaters Haus

Innerhalb der Rastafaribewegung existieren mehrere größere Gruppierungen, die Häuser genannt werden: Darunter Twelve Tribes of Israel, Nyabinghi und eben Bobo Shanties, die sich äußerlich durch Turban und Robe zu erkennen geben. Schon immer genießen die Bobos besonders bei Jugendlichen starken Zulauf. Laut dem Sozialwissenschaftler und Spezialist für jamaikanische Religionen an der University of the West Indies, Prof. Barry Chevannes, unterscheiden sich die Bobos in ihrer orthodoxen, ritualisierten und spirituellen Lebensweise sowie in ihrer radikalen Ablehnung Babylons von anderen Rasta-Häusern, die immer auch mit einem Bein in der säkulären Welt stehen: „Der damals in Jamaika geachtete Heiler Prince Edward Emmanuel gründete eine Kommune, um abseits weltlicher Verführungen in Opposition zu kolonialen wie postkolonialen Strukturen spirituell zu leben.“ Bobos glauben an eine Heilige Dreifaltigkeit von Prophet, Priester und König – Marcus Garvey, Prince Emmanuel und Haile Selassie. Innerhalb der jamaikanischen Gesellschaft werden die Turbanträger vor allem für ihre Bescheidenheit, Sauberkeit und Höflichkeit geachtet, Attribute, die anderen Rastas gerne abgesprochen werden.

Mittlerweile hat sich die orthodoxe Bobo-Kommune in Bull Bay – auf einem Berg in der Nähe von Kingston – von Capleton distanziert, da sein provokantes und lautes Auftreten nicht ihrem Selbstverständnis von Demut entspricht. Auch Nicht-Bobos fühlen sich durch Capletons aggressive Haltung auf die Dreads getreten, so etwa Jamaikas anderer dominierender DJ, Beenie Man, der vor nicht allzu langer Zeit Melone gegen Dreadlocks getauscht und sich zu Rasta bekannt hat.

Seitdem wird er von Capleton immer wieder in der Öffentlichkeit angegriffen. Einer der beliebten Clashs, die die Insel stets in zwei Lager spalten, war geboren. Doch diesmal geht es nicht wie üblich darum, wer der bessere DJ ist, sondern um die Auslegung grundsätzlicher Glaubensfragen. Capleton kritisiert Beenies religiöse Beliebigkeit, der wiederum kontert mit dem Vorwurf des Fundamentalismus. Wie Capleton befürchten viele Rasta-Traditionalisten eine Christianisierung von Rastafari, eine Religion, die bisher als Gegenreaktion zum „weißen“ Christentum verstanden werden konnte. Beenie hingegen vertritt eine international verbreitete Position: Rasta als individueller Lebensstil, in dem eben auch Jesus Platz finden kann. Beenie Mans erklärtes Ziel war immer schon, möglichst divergierende Geschmäcker zu bedienen. Was einige positiv als Vielfalt auslegen, wurmt andere, die ihm Beliebigkeit vorwerfen.

Gegen Soaps und Benz

Beenie scheint auf jeden Fall der geschicktere Öffentlichkeitsarbeiter: So parodiert er erfolgreich Capletons Schlachtruf. Als es bei einem seiner Auftritte zu regnen beginnt, ruft er zusammen mit dem Publikum „More Water!“.

Vor dem Jurassic Park öffnet sich in der Menschenmenge eine Schneise für eine Kolonne mit beladenen Pickup-Trucks. Der Prophet hält Einzug, an Bord die David-House-Crew, ein Zusammenschluss jüngerer Bobo-Interpreten, die von Capleton protegiert werden und mit ihm heute die Show bestreiten. Die Bühne ist nur ein kleines, von einer schwachen Glühbirne beleuchtetes Podest mitten auf einer umzäunten Wiese.

Nach und nach betritt ein Bobo-Künstler nach dem anderen die Bühne und gibt je nach Bekanntheitsgrad ein bis fünf Songs zum Besten. Eine Fünfjährige begeistert die Menge mit einer Interpretation von „Roaring Lion from Zion“. Plötzlich schlagen Flammen hoch inmitten der Zuschauer, ein Stapel Autoreifen wurde mit hochprozentigem Rum in Brand gesetzt. Der Fireman springt auf die Bühne: „More Fire!“ Umringt von seiner Fahnen schwenkenden, hüpfenden und tanzenden Crew spielt er seine Hits wie „Jah Jah City“ oder „Who Dem (Slew Dem)“ an, nur um sie nach wenigen Takten wieder abzubrechen. Capleton zetert, lamentiert, verdammt alles, für was Babylon steht: Soap Operas, Mercedes-Benz und den Papst, den Weltwährungsfonds, die Massenmedien, aber auch Schwule und Lesben.

Seit den 80er-Jahren sind homophobe Texte in der Dancehall gang und gäbe. Längst dienen sie inzwischen eher einem ritualisierten Abfeiern der eigenen Männlichkeit. Bedenklich ist allerdings, dass ausgerechnet hier die ansonsten oppositionelle Dancehall-Kultur auf Regierungslinie liegt. Laut Gesetzbuch, das noch aus englischen Kolonialzeiten stammt, sind homosexuelle Praktiken bei Männern unter Strafe gestellt. Allerdings, so Professorin Cooper, ist „die tief religiöse jamaikanische Gesellschaft paradoxerweise zwar auf einem abstrakten Level gegen Homosexualität, aber hat sich mittlerweile daran gewöhnt, mit Homosexuellen zu leben“.

Trotzdem: Capleton trifft offenbar den Nerv der Zeit in einem Land, das wirtschaftlich kaum mehr tiefer sinken kann. Sein gutturaler Schrei wirkt wie ein Befreiungsschlag von den Leiden der Vergangenheit wie der Gegenwart. Und genau das offenbart sich in der Reaktion eines Publikums, das die Anklagen affirmativ bekräftigt und wiederholt, ohne dass sich die Aggression gegen die wenigen anwesenden „whiteys“ wenden würde.

Im Gegenteil, Capleton entkräftet die Rassismusvorwürfe, wenn er wiederholt klarmacht, dass sich seine Vorbehalte nicht gegen Weiße als „Rasse“, sondern als „Klasse“ richten. Dieser gerade mal ein Prozent ausmachende Bevölkerungsanteil der Karibikinsel besitzt nach wie vor fast sämtliche Produktionsmittel.

Um fünf Uhr morgen lässt Capleton ein sichtlich ausgelaugtes, erschöpftes Publikum zurück, das einer kollektiven Katharsis beigewohnt hat und sich nun auf den Heimweg macht. Auch 20 Kilometer entfernt sind die aktuellen Riddims zu hören, mit denen das Killamanjaro-Soundsystem noch für Stunden den Dschungel beschallt.

Capleton: „More Fire“ (Heartbeat/EFA)Beenie Man: „Art and Life“ (Virgin/EMI), live: 1. 7. Köln, 11. 7. Bremen, 12. 7. Aschaffenburg, 13. 7. Berlin, 14. 7. Hamburg