Neue Paradigmen der Pornografie

Vom reinen Privatvergnügen hat es die Pornografie über das Fernsehen in den Kino-Mainstream geschafft. Ihre Nacktheit ist weder überhöht noch fetischistisch noch utopisch. Ernüchtert und verzweifelt zelebriert sie die totale Öffnung des Körpers. Über den post-pornografischen Blick im Kino

von GEORG SEESSLEN

Der Film, wie wir ihn aus den Programmkinos, von den Festivals und aus den Feuilletonseiten kennen, hat, was die Darstellung von Körpern und von Sexualität anbelangt, in den letzten drei Jahren fast beiläufig ein paar Tabus geknackt, ohne dass dies große Aufregung, gar so etwas wie eine Neuauflage der „Pornodebatte“ ausgelöst hätte. Wir sehen Großeinstellungen auf Penis und Vagina, die Kamera schaut beim Geschlechtsverkehr nicht mehr weg, und das Bild des menschlichen Körpers scheint gerade dort zu faszinieren, wo er seine letzte gesellschaftliche Maske, Selbstkontrolle und, ja, auch Schönheit verloren hat.

Von den sozialen und Körper-Experimenten der Dogma-Filme über die Klage der Verzweiflung in Bruno Dumonts „La Vie de Jésus“ oder „L’Humanité“, die Erforschungen des weiblichen Begehrens in Catherine Breillats „Romance“ bis zum Hard Core als Kunstthema in „Guardami“ oder „Baise-moi“ – das Kino weigert sich, vor den letzten Wirklichkeiten zurückzuschrecken oder in eine Zeichensprache des „Erotismus“ auszuweichen, es weigert sich, Ausreden oder Attitüden zu verwenden. Es guckt einfach hin, und manchmal verfällt es dabei ins Starren.

Sexualität wird nicht mehr dargestellt, weil sie der utopische Fixpunkt des Begehrens in den Bildern ist, das große Versprechen, das sich nie vollständig erfüllen darf, oder weil man mehr oder weniger kunstreich um das Verbotene kämpft, Schock und Provokation als letzte Waffe der Ästhetik.

Der Körper und die Sexualität werden in diesen Filmen dargestellt, weil es sie gibt. Nicht am Anfang, nicht am Ende der Impulse zu erzählen, sondern mittendrin. Sexualität darstellen, weil es sie gibt, heißt auch, sie darstellen, wie sie ist. Nicht als Traum ihrer Inszenierung, wie im filmischen Erotismus, nicht als Bild der Verdammung wie bei Bergman oder Visconti. Daher ist dieser neue Blick des Kinos auf Leiber und Genitalien vielleicht nicht pornografisch im alten Sinn, er substituiert weder die Praxis durch das fetischistische Ritual, noch vermag er durch Überhöhung zu stimulieren. Aber er ist auch alles andere als anti-pornografisch im Sinne eines Kamerablickes, dem es mehr noch als um die Erhaltung um die Konstruktion der Würde des Bildes geht. Es ist ein post-pornografischer Blick, an den wir uns da, mehr oder weniger, gewöhnen.

Verzweiflung und zerfallene Körper

Wie das Pornografische selbst, so ist auch das Post-Pornografische im Kino nicht allein durch das bestimmt, was wir sehen, sondern auch dadurch, wie wir sehen. Im Übrigen ist es stets unser eigener Blick, der die letzten moralischen und ästhetischen Entscheidungen trifft. Und darin schon liegt eine der Wesenheiten des post-pornografischen Blicks, dass er diesen Blick zum Thema macht. Und was noch? Sexualität muss nicht mehr dramatisch, schön oder grotesk sein. Sie benötigt am Ende nicht einmal mehr die narrative Ausrede (erinnern wir uns an frühere Zeiten, wo sexuelle Bilder gerade noch erlaubt waren, weil sie etwas zu „bedeuten“ hatten, oder weil man erst durch sie die Charaktere verstanden hätte). Die Kamera ist viel mehr Zeuge als Teil der Inszenierung, und sie signalisiert dabei schon einen Aspekt der Verzweiflung des post-pornografischen Blicks, der an das Glück als Ergebnis der Sexualität nicht mehr glaubt: Der post-pornografische Blick zelebriert seine eigene Ausgeschlossenheit.

Vielleicht ist er am besten dargestellt in jener Szene von „L’Humanité“, in der Inspektor Pharaon die begehrte Nachbarin beobachtet, die am Boden mit einem anderen Mann fickt. Er kann nicht wegschauen. Sexualität ist im post-pornografischen Blick also nicht die Erfüllung des Begehrens, das, worauf alles hinauswill, sondern eher das, worum man nicht herumkommt. Das muss nicht immer so trist sein wie bei Dumont, wo der Blick auf die Körper ganz buchstäblich die Welt verschließt, aber selbst in „Baise-moi“ und „Romance“ hat dieser Blick etwas Finsteres, als spuke der schreckliche Geist des mehr oder weniger heiligen Augustinus noch in den Bildern des weiblichen Begehrens. Sexualität ist transitiv in diesen Filmen, nicht utopisch. Weshalb nicht nur in der Psyche ihrer Heldinnen und ihrer Helden, sondern auch in der Rhetorik der Kamera das Zärtliche und das Sexuelle gründlich auseinander gebrochen sind. Im pornografischen Blick konnte Sexualität noch als große Ganzheit erfahren werden, ganz einfach alles ist Sexualität, und Sexualität ist die Antwort auf alle Fragen.

Im post-pornografischen Blick ist die Sexualität zerfallen. Die Naheinstellung fetischisiert nicht mehr, sondern dokumentiert die Fremdheit. Der post-pornografische Blick ist vor allem ein gespaltener, einer der sich vor lauter Verzweiflung darüber, dass sich das Objekt der Begierde umso mehr entzieht, je genauer man es ansieht, in seine analytische Strafe verkehrt. Der Blick wird zum Zwang. Ist es also das, was ihr sehen wollt? Dann seht nur noch genauer hin. Und erkennt euch selbst. Wem oder was aber entspricht dieser post-pornografische Blick, wem nützt er, und über wen spricht er?

Der post-pornografische Blick richtet sich nach unten, auf die Verlierer und Opfer. Der Körper, die Sexualität, Lust und Begehren (und was wir sonst noch für Wörter für den merkwürdigen Zusammenhang von Mechanik und Fantasie haben, für das „Getöse zwischen Göttlichem und Trivialem“, wie es Catherine Breillat nennt) – das alles verliert in diesem Blick seine Metaphysik. Es ist nicht mehr Versprechen noch Fetisch. Nicht Utopie, sondern Alltag.

Man mag das „realistisch“ nennen, am Ende gar aufklärerisch. Zumindest macht es die Kritik schwer. Können wir denn anders, als uns schützend vor Filme wie „Guardami“ zu stellen, wenn Klerus, populistische Politik und Justiz wieder nach dem Verbot greifen, so scheinheilig, wie man dort nun einmal ist? Tun Festivals und Programmkinos nicht recht daran, die moralischen Entscheidungen ausschließlich dem Publikum zu überlassen? Und was ist ein Close-up auf ein weibliches Geschlecht gegen die Massenfeier des Voyeurismus von „Big Brother“?

Am Anfang der 80er-Jahre erfuhren wir in dem Buch von Richard Sennett, „Die Tyrannei der Intimität“, davon, wie die so genannte Privatsphäre durch die Medien perforiert und in den öffentlichen Raum gestellt wurde. Überhaupt wurde das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem neu definiert, was unter anderem auch bedeuten mag, dass der Begriff der „Moral“ einen vollkommen neuen Inhalt bekommt. Bloß welchen? Das Fernsehen gab, sehr viel früher als das Kino, darauf eine Antwort. Es machte sich, genauer gesagt, selber zur Instanz dieses Transformationsprozesses – und alle die „Skandale“, die wir in diesem Programm zur Entgrenzung von Intimsphäre und Öffentlichkeit erleben, sind nichts weiter als neue Kapitel in diesem Prozess.

Zeigelust undPerforation des Privaten

Für das Kino war es also ein Problem, die Öffnung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu dokumentieren, ohne in die alten Muster zurückzufallen, zum Beispiel in jene Komplizenschaft zwischen der Blicklust der Zuschauer und der Zeigelust der Kinomaschine, die ihren dann doch wieder „privaten“ Vergnügungen eine moralische oder ästhetische „Ausrede“ umhängt. Pornografie, das galt auch in den liberaleren Jahren als ausgemacht, ist ein Vergnügen aus dem Privatbereich für den Privatbereich, das nur einen Umweg über die öffentlichen Kanäle nimmt. Und es war ein Kinoproblem, den Paradigmenwechsel in der Sicht auf die Sexualität nachzuvollziehen, der, wenn auch noch lange nicht vollständig, die alten erotischen Mythen und Ideale (einschließlich derer der Hippies, der 68er und der Subkulturellen) beseitigt.

Der Skandal dieses neuen pornografischen Blicks im Kino liegt darin, dass er auf Menschen des Mainstreams in vollständiger Offenheit gerichtet ist. Und mehr noch: der post-pornografische Blick ist zugleich ein moralischer Blick. Die „neuen“ pornografischen Filme handeln von allem Möglichen, nur nicht vom Glück. Sie reflektieren zum Teil auch eine so totale Öffnung von Körper und Blick, die am Ende nur den Tod bedeuten kann – und tatsächlich scheinen ja eine Reihe dieser Filme, wenn nicht vom Wahn, so vom Tod besessen, von einer radikalen Verurteilung der Welt nun nicht mehr im Blick (der sterbenden Melodramen-Heldin à la Lilian Gish), sondern im Bild auf die hoffnungslose Nacktheit.

Es ist eine „ungeschützte“ Beziehung zwischen Blick und Bild, die da abläuft, und der post-pornografische Blick ist einer, der dabei auch die Gefahren sieht. In der post-pornografischen Konstruktion erzählt sich Sexualität eher als Vergangenheit denn als Zukunft. Der klassische (Hollywood-)Film erzählte auf das „große Ereignis“ hin, so lange, bis abgeblendet werden kann, bis das Kaminfeuer knistert, der Vorhang sich senkt. Vielleicht ist die ganze Geschichte des Kinos um diesen magischen Moment herum zu verstehen; um jede Sekunde Blick wurde in der Gesellschaft und in den Bilderfabriken gerungen und gefeilscht.

In den Siebzigerjahren hatte zumindest ein so oder so privilegierter Teil der Kinozuschauer den Vorhang für sich gelüftet, ob Kunst, Underground oder Porno. In der „Geschichte der O“ schien sich so etwas wie ein Konsensbild für den Mainstream gebildet zu haben (ungeachtet der Einsprüche von links und rechts), ein Genussversprechen im moralischen Jenseits. Die Achtzigerjahre scheuten sich vor der Ernüchterung, indem sie in das Grauen des Körpers flüchteten, sie zeigten nicht seine triviale Wahrheit, sondern seine Verletzlichkeit. Wenn du glaubst, der Körper sei nichts mehr wert, dann zerschneide, durchbohre, zerfetze ihn! Aber dann? In den Neunzigerjahren wurde vergeblich versucht, eine neue, schwarze Romantik zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu errichten. Die Menschen machten sich noch einmal auf eine Suche, sie hatten dies und jenes ausprobiert, aber sie wollten es noch einmal wissen: Wer bin ich? Man kann zu diesem Zweck in den finsteren Datenkanälen und in den Fantasien von Serienmördern verschwinden, man kann aber auch endlos darüber reden. Es führt zu nichts. So ist an der Wende der Jahrtausende klar, dass man die Geschichten gleichsam von er anderen Seite her erzählen muss, aus der großen Ernüchterung, aus der großen Enttäuschung heraus.

Recht eigentlich begann der post-pornografische Film mit Blicken auf das männliche Genital, im Vorübergehen (oder im Vorüberschwimmen sozusagen wie in „Color of Night“, wo die full frontal nudity von Bruce Willis noch ein Zensurspielchen initiierte). Der Schwanz zieht die Blicke nun nicht mehr an wie ein Schreibgerät des pornografischen Textes der Welt; er hängt so herum, steht auch schon mal auf, verspricht einiges und hält nicht halb so viel. Mit dem post-pornografischen Blick auf den Schwanz hat die „traditionelle“ Pornografie im Grunde ihr Subjekt verloren.

Der Schwanz, das alte Schreibgerät

Pornostars als Filmdarsteller – Tracy Lords musste dafür noch beinahe „anständig“ werden, um in einer Karrieregeschichte zu erzählen, wie man sich gleichsam in den moralischen Mainstream zurückhäutet. Früher konnten Stars wie Sybille Rauch oder Marisa Mell noch zu „Pornodiven“ „herabsinken“. Jemand wie Rocco Siffredi muss dagegen schon in „Romance“ oder „Guardami“ gerade das Pornografische einbringen, das wir in Filmen wie Paul Thomas Andersons „Boogie Nights“ noch als einen heftigen Dialog zwischen diesem Untergrund und der Gesellschaft, als Fragment von Dissidenz kennen und lieben lernten. Und vielleicht ist es gerade auch dies, was nach den vielen komischen und melodramatischen Auflösungsspielen und einem Kino der Gendernauten für die Ernüchterung im post-pornografischen Blick sorgt: Wenn die Perforation von Öffentlichem und Privatem den aktuellen Status erreicht hat, dann ist über Sexualität auch keine Dissidenz mehr zu konstruieren.

So muss unter anderem der post-pornografische Blick sogar noch so etwas wie Trauer über den Verlust des Pornografischen selbst in der Welt des öffentlichen Terrors der Intimität enthalten. Natürlich gibt es auch die Umkehrung der Umkehrung: Ein Film wie „Eine pornographische Beziehung“ von Frédéric Fonteyne versucht gleichsam, das Unsichtbare der Sexualität zu retten: Ein Mann und eine Frau, die sich über eine Anzeige für eine ganz bestimmte sexuelle Fantasie kennen gelernt haben (welche das ist, erfahren wir nicht), und der einzige Blick, den uns der Film in das ansonsten verschlossene Hotelzimmer gestattet, zeigt nur eine gewöhnliche Umarmung. Tatsächlich versucht der Film wohl am konsequentesten, die Geschichte rückwärts zu erzählen, vom Sex zur Liebe sozusagen, aber eben auch von der Trivialität zum Geheimnis zurück. Das Intimste ist überhaupt nur ein McGaffin.

Mit diesem Essay beginnen wir eine lose Folge von Texten, die sich mit der Darstellung von Pornografie in verschiedenen Medien befassen, ihrer Vermarktung und veränderten Bedeutung in den Diskursen von Mainstream und Underground.